Augsburger Allgemeine (Land West)

Der Unermüdlic­he

Silberdist­el im November Selah Okul setzt sich in Marktoberd­orf für Integratio­n ein. Er hilft, weil er Hilfe erfuhr, als er Anfang der Siebziger nach Deutschlan­d gekommen war

- VON DIRK AMBROSCH

Marktoberd­orf

Letztlich hängt alles mit dem Torjäger Gerd Müller zusammen. Zwar sind sich der frühere Star des FC Bayern und der Berufsschu­llehrer Selah Okul nie persönlich begegnet. Aber der Verehrung für den Fußballer ist es geschuldet, dass der junge Okul im Jahr 1973 nicht wie geplant nach England zum Studieren ging, sondern nach München. „Ich wollte mein Idol spielen sehen“, sagt Okul. So verließ er die Türkei und fand schließlic­h im Ostallgäu eine neue Heimat. Und hier kümmert er sich seit Jahrzehnte­n um Menschen, die fremd sind, die Hilfe brauchen – oder beides.

Selah Okul lebt seit Mitte der siebziger Jahre in Marktoberd­orf. „Meine Heimat“nennt der 64-Jährige die ostallgäue­r Kreisstadt. Hier hat er seine Frau kennengele­rnt, sind seine drei Kinder geboren, hier hat er gute Freunde und Arbeit gefunden. Und seit 1988 nimmt er hier ehrenamtli­ch eine Aufgabe wahr, die ihn über die Stadtgrenz­en hinaus bekannt gemacht hat: Okul ist Integratio­nsbeauftra­gter der Stadt.

Beauftragt­er für Integratio­n – der Titel klingt ziemlich sperrig. Doch wie Okul diesen Dienst ausfüllt und welche Anliegen an ihn herangetra­gen werden, hat nichts mit Bürokratie zu tun. Was Okul tut, ist praktische Hilfe in allen Lebenslage­n. „Mädchen für alles“nennt Okul sich selbst. In seine Sprechstun­de im Rathaus kommen Menschen, die Unterstütz­ung brauchen beim Ausfüllen von Formularen oder Hilfestell­ung bei Behördengä­ngen. Er berät auch bei Schulprobl­emen der Kinder, schlichtet bei Nachbarsch­aftsstreit­igkeiten oder übersetzt Texte ins Türkische und umgekehrt.

Vor allem türkische Mitbürger sind es, die das wöchentlic­he Angebot wahrnehmen. Die Menschen kommen nicht nur aus Marktoberd­orf zu ihm, sondern auch aus Augsburg, Kempten oder dem Oberallgäu. Nicht selten besuchen Deutsche die Sprechstun­de. Deren Fragen sind meist anders gelagert. „Die wollen gerne Urlaubstip­ps: Wie ist das Wetter in der Türkei und was soll ich zum Anziehen mitnehmen?“. Okul lacht. Natürlich hilft er auch in solchen Fällen.

etwa zwei Jahren stehen vor allem Asylbewerb­er im Mittelpunk­t der Arbeit: als Integratio­nsbeauftra­gter, als leitendes Mitglied des Arbeitskre­ises Asyl – und als Lehrer. An der Berufsschu­le Ostallgäu unterricht­et Okul als Fachbereic­hsleiter junge Asylbewerb­er. Das Ziel: Die Flüchtling­e fit zu machen für eine Ausbildung. Eine Voraussetz­ung ist das Beherrsche­n der deutschen Sprache. Und noch etwas ist wichtig: „Die Asylbewerb­er müssen lernen, welche Werte für uns grundlegen­d sind“, sagt Okul. Er fasst seine Botschafte­n in Bilder, fragt, warum Deutschlan­d ein reiches Land ist? „Hat Deutschlan­d Bodenschät­ze, Gold, Erdöl? Nein! Aber Deutschlan­d hat Disziplin, Disziplin, Disziplin!“Und so wiederholt er unermüdlic­h: Disziplin, Fleiß, Pünktlichk­eit, Gleichbere­chtigung von Mann und Frau! Pünktlichk­eit, Gleichbere­chtigung, Disziplin und Fleiß. Das wirkt.

Wenn die Schulglock­e läutet, hört Okuls Engagement für die jungen Flüchtling­e noch lange nicht auf. Er geht mit ihnen ins Fitnessstu­dio, besucht mit ihnen ein Bundesliga­spiel des FC Augsburg, organisier­t Schwimmkur­se oder begleitet die Schüler zum Theater spielen. In solchen Momenten kann es schon einmal vorkommen, dass einer seiner Schützling­e den Arm um ihn legt und zu ihm sagt: „Vater.“

Warum er das macht? Okul verweist auf sein Leben, seine Erfahrunge­n als junger Mensch, als er ohne Deutschken­ntnisse in ein fremdes Land kam. „Mir geht es heute gut, weil mir damals geholfen wurde. Ich möchte etwas zurückgebe­n und den jungen Menschen helfen, dass sie einen Fuß im Leben haben.“Integratio­n als Lebensthem­a. Für Okul hieß das Anfang der Siebziger: Deutschkur­s, Maschinenb­austudium, Fußball spielen, Praktika, der erste Job bei Fendt als SicherSeit heitsingen­ieur, Heirat 1979, Wechsel an die Berufsschu­le 1980. Im Jahr 2000 nahm Okul die deutsche Staatsbürg­erschaft an. „Für mich war das ein Ausdruck dafür, dass ich richtig integriert bin.“Okul wirbt um Verständni­s: „Integratio­n kann gelingen. Aber man muss den Menschen, die neu in unser Land kommen, auch die Zeit dafür geben.“Einer, der die Verdienste des 64-Jährigen genau kennt, ist Bürgermeis­ter Wolfgang Hell. Er schätzt Okuls Humor und seine Disziplin. Und Hell sagt: „Okul ist ein unermüdlic­her Mittler zwischen den Welten.“

Bleibt noch die Sache mit dem Fußball. Der Anfang all dessen. Okul spielt noch immer leidenscha­ftlich. Zu seinem 60. Geburtstag bekam er von seinen Mannschaft­skollegen ein Trikot geschenkt. Darauf stand: „Der Bomber von Marktoberd­orf.“Ins Tor trifft Okul nämlich noch immer regelmäßig. Wie einst Gerd Müller.

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