Augsburger Allgemeine (Land West)
Ein jeder ist auf sich gestellt
Mit seiner nachgerade zum Spruch gewordenen ersten Zeile ist „Im Nebel“das bekannteste Gedicht (neben „Stufen“) von Hermann Hesse (1877–1962). Weniger verbreitet ist, dass die vier Strophen Bestandteil einer kleineren Erzählung des Autors sind. „Eine Fußreise im Herbst“entstand 1906 und wurde erstmals im Folgejahr in der ProsaSammlung „Diesseits“veröffentlicht. Der Zusammenhang mit der Erzählung ist nicht unbedeutend, erwecken die Verse doch leicht den Eindruck, hier gebe ein welterfahrener und an Jahren schon weit fortgeschrittener Sprecher eine Weisheit von sich. Das Gegenteil ist der Fall. Der Ich-Erzähler der „Fußreise“, der im Schlusskapitel von sich berichtet „Verse fielen mir ein …“und daraufhin die besagten 16 Zeilen folgen lässt, ist gerade mal Ende 20 – wie auch ihr Autor Hesse.
Die erste Strophe schildert eine Naturszene, doch schon hier wird deutlich, dass die Nebellandschaft lediglich die Folie abgibt für eine menschlich-existenzielle Problematik. „Zu wandern“, das ist ja auch seit jeher ein poetisches Sinnbild für den Lebensgang des Menschen. „Jeder ist allein“, der Schlussvers schon dieser ersten Strophe, ist zudem eine Wortfolge, die in ihrer Mehrdeutigkeit unschwer zu erkennen gibt, worauf die beschriebene Situation eigentlich zielt: keineswegs nur auf Bäume, Büsche, Steine.
Die in den Dunst gehüllte Landschaft bringt die Reflexion des Wanderers in Gang. Die eingeschränkte Sicht hat neben der weiteren und nicht nur „einsam“aufscheinenden Natur auch die „Freunde“, die Mitmenschen, dem Gesichtsfeld entzogen und ihn „allein“gelassen. Doch der Nebel schafft nicht nur die Bedingung für die Erkenntnis, er ist sie zugleich selbst: Im Wahrnehmen der Menschen bleibt die Sicht des Individuums begrenzt, bei diesem Unterfangen steckt ein jeder buchstäblich im Nebel. Ein Gedanke, der umfassend („unentrinnbar“) Gültigkeit besitzt, sodass die Konsequenz in die Formel mündet: „Leben ist Einsamsein“– tief innerlich und selbst dort, wo man sich in der Gemeinschaft von „Freunden“weiß. In der Erzählung von der „Fußreise“ist diese ernüchternde Einsicht noch etwas näher ausgeführt. Im Nebel, heißt es da, „empfindest du das Symbolische darin erschreckend deutlich“: Wie nämlich „unsere Wege immer nur für wenige Schritte und Augenblicke sich kreuzen und den flüchtigen Anschein der Zusammengehörigkeit, Nachbarlichkeit und Freundschaft gewinnen.“
Bewusst hat Hesse die zentralen Begriffe des Gedichts, Nebel und Leben, in den beiden ersten Versen der Schlussstrophe nah zueinander gestellt, nicht nur ihres Gleichklangs, sondern auch ihrer Spiegelbildlichkeit wegen: „Nebel“ist „Leben“, rückwärts gelesen.