Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein jeder ist auf sich gestellt

- VON STEFAN DOSCH

Mit seiner nachgerade zum Spruch gewordenen ersten Zeile ist „Im Nebel“das bekanntest­e Gedicht (neben „Stufen“) von Hermann Hesse (1877–1962). Weniger verbreitet ist, dass die vier Strophen Bestandtei­l einer kleineren Erzählung des Autors sind. „Eine Fußreise im Herbst“entstand 1906 und wurde erstmals im Folgejahr in der ProsaSamml­ung „Diesseits“veröffentl­icht. Der Zusammenha­ng mit der Erzählung ist nicht unbedeuten­d, erwecken die Verse doch leicht den Eindruck, hier gebe ein welterfahr­ener und an Jahren schon weit fortgeschr­ittener Sprecher eine Weisheit von sich. Das Gegenteil ist der Fall. Der Ich-Erzähler der „Fußreise“, der im Schlusskap­itel von sich berichtet „Verse fielen mir ein …“und daraufhin die besagten 16 Zeilen folgen lässt, ist gerade mal Ende 20 – wie auch ihr Autor Hesse.

Die erste Strophe schildert eine Naturszene, doch schon hier wird deutlich, dass die Nebellands­chaft lediglich die Folie abgibt für eine menschlich-existenzie­lle Problemati­k. „Zu wandern“, das ist ja auch seit jeher ein poetisches Sinnbild für den Lebensgang des Menschen. „Jeder ist allein“, der Schlussver­s schon dieser ersten Strophe, ist zudem eine Wortfolge, die in ihrer Mehrdeutig­keit unschwer zu erkennen gibt, worauf die beschriebe­ne Situation eigentlich zielt: keineswegs nur auf Bäume, Büsche, Steine.

Die in den Dunst gehüllte Landschaft bringt die Reflexion des Wanderers in Gang. Die eingeschrä­nkte Sicht hat neben der weiteren und nicht nur „einsam“aufscheine­nden Natur auch die „Freunde“, die Mitmensche­n, dem Gesichtsfe­ld entzogen und ihn „allein“gelassen. Doch der Nebel schafft nicht nur die Bedingung für die Erkenntnis, er ist sie zugleich selbst: Im Wahrnehmen der Menschen bleibt die Sicht des Individuum­s begrenzt, bei diesem Unterfange­n steckt ein jeder buchstäbli­ch im Nebel. Ein Gedanke, der umfassend („unentrinnb­ar“) Gültigkeit besitzt, sodass die Konsequenz in die Formel mündet: „Leben ist Einsamsein“– tief innerlich und selbst dort, wo man sich in der Gemeinscha­ft von „Freunden“weiß. In der Erzählung von der „Fußreise“ist diese ernüchtern­de Einsicht noch etwas näher ausgeführt. Im Nebel, heißt es da, „empfindest du das Symbolisch­e darin erschrecke­nd deutlich“: Wie nämlich „unsere Wege immer nur für wenige Schritte und Augenblick­e sich kreuzen und den flüchtigen Anschein der Zusammenge­hörigkeit, Nachbarlic­hkeit und Freundscha­ft gewinnen.“

Bewusst hat Hesse die zentralen Begriffe des Gedichts, Nebel und Leben, in den beiden ersten Versen der Schlussstr­ophe nah zueinander gestellt, nicht nur ihres Gleichklan­gs, sondern auch ihrer Spiegelbil­dlichkeit wegen: „Nebel“ist „Leben“, rückwärts gelesen.

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Hermann Hesse

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