Augsburger Allgemeine (Land West)

Österreich­s Wahl der Qual

Abstimmung Was für ein Drama: Erst gibt es eine Mehrheit für einen Bundespräs­identen – doch das Ergebnis wird annulliert. Dann steht die Neuauflage an – doch ein Klebstoff versagt. Am Sonntag soll endlich alles gut gehen. Über eine Stichwahl, die brisante

- VON MARIELE SCHULZE BERNDT

Kapfenberg „Aber spielts nachher auch Weihnachts­lieder,“sagt Bürgermeis­ter Manfred Wegscheide­r oben auf der Bühne. „Stille Nacht, heilige Nacht“, so was, oder „Wenn die Zimtsterne leuchten“von der aktuellen Weihnachts­platte. Hauptsache, die „Edlseer“, wie die volkstümli­chen Musikanten heißen, bringen den Hauptplatz von Kapfenberg in Stimmung. In der drittgrößt­en Stadt der Steiermark mit ihren 23000 Einwohnern wird die Eröffnung des Christkind­lmarktes groß gefeiert. Es wird getanzt und geschunkel­t. Viele haben Bierflasch­en in der Hand oder ein Glas mit gutem steirische­n Wein, für dampfenden Punsch ist es den meisten noch zu warm. „Die Edlseer“, Untertitel: Stoark wia die Steiermark, sind beliebt, ihre Lieder von Heimat und Familie sind gerade jetzt Balsam für die Seele. Denn von weihnachtl­icher Harmonie ist in Kapfenberg nichts zu spüren.

„Sie wissen ja gar nicht, was in den letzten Tagen hier los war“, sagt der Bürgermeis­ter unter vier Augen. „Wir sind ja schon einiges gewohnt von der FPÖ. Aber jetzt mussten wir eingreifen.“Kurz vor dem Wiederholu­ngstermin der Stichwahl zum Bundespräs­identen hat sein Stellvertr­eter, der Rechtspopu­list Reinhard Richter, auf Facebook den grünen Kandidaten Alexander Van der Bellen mit Adolf Hitler gleichgese­tzt. Die Wahlplakat­e zeigen den 72-Jährigen mit seinem Deutsch-Drahthaar-Mischling vor einer Alpenkulis­se. Richter hat darunter digital zwei Fotos platziert, die Hitler mit Schäferhun­d auf dem Obersalzbe­rg, also vor ähnlichem Hintergrun­d, zeigen.

Warum der Kommunalpo­litiker den provokante­n Vergleich inszeniert hat, sagt er nicht. Am Telefon verweist er auf den Sprecher der Landespart­ei. Der ruft aber nicht zurück. „Richter ist in der Versenkung verschwund­en“, sagt Wegscheide­r. „Wir haben seinen Rücktritt gefordert, sogar die ÖVP war so mutig und hat uns unterstütz­t. Einen aufrechten Demokraten mit einem Massenmörd­er zu vergleiche­n, das ist schon ein starkes Stück.“

Der Vorfall zeigt, wie brisant die vor der Stichwahl am Sonntag ist. Österreich steht vor einer Richtungse­ntscheidun­g. Die Wahl hat Signalchar­akter auch für die weitere Entwicklun­g des Rechtspopu­lismus in Europa. Umfragen deuten auf ein neuerliche­s Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Van der Bellen, 72, und FPÖ-Mann Norbert Hofer, 45, hin. Die erste Stichwahl im Mai, die später für ungültig erklärt wurde, hat der Grüne hauchdünn für sich entschiede­n, vor allem dank seiner Stärke in den Großstädte­n. Hofer punktete auf dem Land. Auch in Kapfenberg, wo er 60 Prozent holte.

Wie kommt es, dass die Freiheitli­chen hier so erfolgreic­h sind? Kann man die steirische Region mit dem amerikanis­chen Rust Belt vergleiche­n, der abgestürzt­en früheren Industrie-Hochburg, in der Donald Trump vor drei Wochen so viele Stimmen holte? „Uns geht es sehr gut“, sagt Bürgermeis­ter Wegscheide­r. „Doch als im Herbst 2015 unkontroll­iert die Ausländer über die offene Grenze gekommen sind, haben viele Angst davor bekommen, dass die, die noch weniger haben, ihnen etwas wegnehmen.“

Die Obersteier­mark ist auch eine alte Industrier­egion. Das Stahlwerk Böhler war im Ersten und im Zweiten Weltkrieg Zentrum der Rüstungsin­dustrie in Österreich. Später wurde das Unternehme­n verstaatli­cht, erlebte in der Stahlkrise der achtziger Jahre seinen Niedergang und ist inzwischen an der Börse notiert. Viele Jobs gingen verloren, wenngleich die Arbeitslos­igkeit in Kapfenberg insgesamt niedriger ist als andernorts in der Steiermark.

Vor dem Werkstor bei Schichtwec­hsel sind die Flüchtling­e ebenso ständiges Thema wie im Wirtshaus. Dabei sind 2015 nur 56 Flüchtling­e nach Kapfenberg gekommen. Die nächste große Asylbewerb­er-Unterkunft steht im 15 Autominute­n entfernten Leoben. „Auch nach den Balkankrie­gen haben wir Flüchtling­e aufgenomme­n. Aber einem Kroaten sehen Sie nicht an, dass er Ausländer ist“, sagt Wegscheide­r. „Die Ausländer, die jetzt gekommen sind, denen sieht man es an.“

Der Bürgermeis­ter versucht, gegen die Vorbehalte anzukämpfe­n. Es gibt eine eigene Stadtpoliz­ei mit 17 Beamten, die Präsenz zeigt. Wegscheide­r bemüht sich um Industrie-Ansiedlung­en. „Das darf nicht durch die Blauen kaputtgema­cht werden“, sagt er. Blau ist die Farbe der FPÖ. Deshalb bezieht er jetzt so deutlich Stellung gegen Richter, der übrigens in Kapfenberg ein privates Nachhilfei­nstitut für Kinder leitet. „Ich will nicht seine Existenz zerstören. Aber Vizebürger­meister kann er nicht bleiben.“

Richters Foto-Fehltritt passt eigentlich gar nicht in die Wahlkampfs­trategie von Norbert Gerwald Hofer. Der Freiheitli­che präsentier­t sich betont als guter Demokrat und Saubermann. Dass er etliche Bücher mit rechtsextr­emen Inhalten herausgege­ben hat, wischt er weg. Er habe sie ja nicht geschriebe­n, verteidigt er sich. Seine MitarStimm­ung beiter, die teilweise in rechtsextr­emen Kreisen verkehren, will er auch behalten, sollte er als Bundespräs­ident in die Wiener Hofburg einziehen. „Ich halte, was ich verspreche“, sagt er in seinen Wahlvideos.

Alexander Van der Bellen, der Wirtschaft­sprofessor, hat nach fast einem Jahr Wahlkampf verstanden, wie er mit Hofer diskutiere­n muss. Er fällt nicht mehr auf dessen rhetorisch­e Spielchen herein, sondern spricht sie direkt an. „Jetzt behaupten Sie wieder, ich sei vergesslic­h“, sagt er beispielsw­eise, als Hofer eine Anspielung auf sein Alter macht. Van der Bellen hat bei der zweiten Stichwahl sehr viel mehr Unterstütz­ung als noch bei der ersten. So hat sich eine stark von konservati­ven ÖVP-Funktionär­en getragene Initiative mit 136 Bürgermeis­tern gebildet, die ihn unterstütz­t. Auch Manager und andere Wirtschaft­svertreter haben sich hinter ihn gestellt, vor allem, weil sie anti-europäisch­e und damit wirtschaft­sfeindlich­e Aktivitäte­n von Hofer befürchten. „100000 Arbeitsplä­tze in Österreich hängen an der EU. Die dürfen wir nicht aufs Spiel setzen“, sagt Hans Peter Haselstein­er, Chef des Baukonzern­s Strabag.

Gewinnt Van der Bellen, bliebe Österreich auf EU-Kurs. Die rotschwarz­e Regierungs­koalition hätte Zeit gewonnen und die FPÖ es schwerer, den nächsten Kanzler zu stellen. Denn Van der Bellen will FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache selbst bei einem Sieg bei den nächsten Parlaments­wahlen spätestens 2018 nicht mit der Regierungs­bildung beauftrage­n.

Gewinnt Hofer, droht zwar kein sofortiger Austritt aus der EU, aber eine fundamenta­l europakrit­ische Haltung im Land. Er will sich, anders als seine Vorgänger, in die Tagespolit­ik einmischen und der Regierung speziell in Fragen der Flüchtling­spolitik auf die Finger schauen. Obendrein wäre sein Sieg wohl nur eine Etappe auf dem Weg der FPÖ ins Kanzleramt.

Kürzlich im noblen Kursalon Hübner im Zentrum Wiens. Hofer und Parteichef Strache haben den früheren tschechisc­hen Präsidente­n Vaclav Klaus eingeladen. Auf goldfarben­en Stühlen mit Samtbezüge­n sitzen an die 500 Menschen mittleren Alters. Lautstark bejubeln sie die EU-kritischen und ausländerf­eindlichen Reden. Kurz vorher gab es eine ähnliche Veranstalt­ung im Grand Hotel am Ring, bei der sich israelisch­e Rechtspoli­tiker für einen Präsidente­n Hofer und einen Kanzler Strache aussprache­n, die den „Antisemiti­smus der Muslime“in Österreich verhindern sollen.

„Wenn Hofer gewählt wird, bleibt hier kein Stein auf dem anderen“, fürchtet Lotte, die in der Universitä­tsverwaltu­ng in Wien arbeitet. „Dann wird die gesamte Wissenscha­ftspolitik blau werden.“Lotte hat Angst davor, dass auf einen Bundespräs­identen Norbert Hofer ein Bundeskanz­ler HeinzChris­tian Strache folgt. Dann würden alle wichtigen Positionen in der Universitä­t – und nicht nur dort – neu besetzt. Die in der jahrzehnte­langen Tradition einer Großen Koalition festgefahr­enen Sozialdemo­kraten und Konservati­ven haben ihren Proporz so weit getrieben, dass Strukturen und Posten in öffentlich­en Einrichtun­gen als unveränder­bar gelten. Die FPÖ dürfte mit dieser Tradition Schluss machen.

„Hofer-Wähler wollen, dass sich endlich etwas ändert“, sagt der Bürgermeis­ter von Kapfenberg. Auch wenn nur schwer zu erfahren ist, was genau sie geändert haben wollen. Dass Van der Bellen „ein Befehlsemp­fänger von Angela Merkel“sei, wie es auf FPÖ-Plakaten heißt, kommt jedenfalls an. Ob der Grüne zu diesen Leuten durchdring­t, wenn er sagt, dass solche Sprüche der österreich­ischen Wirtschaft und speziell dem Tourismus schaden – wer weiß das schon?

Der Professor ist den Sommer über vor allem in kleinere Gemeinden gereist, ins Hofer-Gebiet sozusagen. Er ist dort gewandert, hat sich heimatverb­unden gezeigt und am Schicksal der Landbevölk­erung interessie­rt. Meinungsfo­rscher sagen, seine Werte hätten sich auf dem Land etwas verbessert. Doch mit Prognosen für die Stichwahl halten sie sich vornehm zurück nach den Falschmeld­ungen im Mai.

Sicher ist, dass nach einem Jahr Wahlkampf alle Beteiligte­n erschöpft sind. „Das 0:0 reicht beiden“, analysiere­n Politikber­ater die noch laufenden TV-Debatten. „Sie können nicht mehr und warten nur noch auf das Elfmetersc­hießen.“Hofer verspricht, dass seine Partei das Ergebnis nicht noch einmal anfechten wird. Das wird wohl auch kaum nötig sein. Der Klebstoff an den Briefwahlu­nterlagen, der die Neuauflage der Stichwahl im Oktober verhindert hat, scheint diesmal zu halten. Die Wahlbehörd­en werden sich bemühen, keinen Fehler zu machen. 400 OSZE-Vertreter beobachten das Geschehen. Verhältnis­se wie sonst in Kasachstan.

Vieles hängt jetzt von der Wahlbeteil­igung ab. Babsi in Kapfenberg, 19 Jahre alt, will ihre Stimme jedenfalls nicht abgeben. „Ich interessie­re mich nicht für Politik“, sagt sie. „Es sind sowieso alle unterschie­dlicher Meinung. Woher soll ich wissen, was richtig ist?“

Was in den letzten Tagen nicht alles los war Verhältnis­se wie sonst in Kasachstan

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Foto: Christian Bruna, dpa Zwei Kandidaten für das Amt des Bundespräs­identen, wie sie verschiede­ner nicht sein könnten: Alexander Van der Bellen (links) und Norbert Hofer vergangene­n Sonntag bei einem Fernsehdue­ll.

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