Augsburger Allgemeine (Land West)

„Für sie sind wir alle Terroriste­n“

Syrien Im Osten Aleppos wächst die Angst der Menschen vor Übergriffe­n der einmarschi­erenden Regierungs­truppen. In der Stadt herrschen Chaos, Panik und Verzweiflu­ng. Und die wenigen Ärzte wissen kaum noch, wie sie helfen sollen

- VON JOACHIM BOMHARD

Aleppo/Augsburg

Im Ostteil Aleppos, wo immer noch rund 250000 Menschen ausharren, gibt es gerade mal vielleicht 32 Ärzte. Ein Teil von ihnen steht mit Teams von Ärzte ohne Grenzen im Kontakt. Was sie berichten, ist erschütter­nd. Es gibt kaum noch eine Gesundheit­sversorgun­g. Immer wieder sind Kliniken das Ziel von Luftangrif­fen. Allein in den vergangene­n vier Monaten wurden 35 gezählt. Vom 23. September bis 24. November haben die Mediziner in ihren Einrichtun­gen 4300 Verletzte versorgt, unter ihnen allein 510 Kinder. Allein in den Kliniken seien mehr als tausend Tote registrier­t worden, 150 von ihnen Kinder. Wie viele Opfer gar nicht mehr in eines der Krankenhäu­ser gebracht werden konnten, bleibt offen, heißt es in einer Mitteilung von Ärzte ohne Grenzen.

Die Organisati­on hält 45 Tonnen Medikament­e, medizinisc­hes Material und auch Ersatz für die zerstörten Krankenwag­en bereit, die innerhalb 24 Stunden mit einem Konvoi nach Ost-Aleppo gebracht werden könnten. Doch sie bekommt keine Erlaubnis und keinen Zugang in die zerstörte Stadt, die seit über vier Jahren von Rebellen gehalten wird.

Dort sind die Truppen von Staatschef Baschar al-Assad von Norden her auf dem Vormarsch. Sie haben allein in den vergangene­n Tagen mindestens ein Drittel des Gebiets eingenomme­n, und damit wächst die Angst vor Racheakten des Regimes. Immer mehr Zivilisten befürchtet­en Übergriffe der Regierungs­kräfte, berichtet Amnesty Internatio­nal. Syriens Regierung habe eine „lange und dunkle Geschichte“von willkürlic­hen Festnahmen, und Menschen seien verschwund­en, erklärt die Menschenre­chtsorgani­sation. Deswegen sei es umso wichtiger, die Zivilbevöl­kerung in eingenomme­nen Gebieten zu schützen.

Die heftigen Angriffe auf die Rebellenge­biete der nordsyrisc­hen Stadt haben nach UN-Angaben in den vergangene­n Tagen bereits bis zu 16000 Menschen in die Flucht getrieben. Das russische Militär, das an der Seite der Assad-Truppen kämpft, erklärt, bereits die Hälfte des Rebellenge­bietes sei erobert. Trotz dieser großen Geländegew­inne wollen die Rebellen nicht aufgeben. „Der Kampf geht weiter“, sagt Usama Abu Seid, Berater der opposition­ellen Freien Syrischen Armee, FSA. Der Vormarsch des Regimes sei das Ergebnis von „massivem militärisc­hen Druck“gegen Rebellen, die nur leichte Waffen besäßen. „Das bedeutet nicht, dass die Schlacht zu Ende ist.“

Das UN-Menschenre­chtsbüro erklärt, Zehntausen­de säßen in den noch von der Opposition kontrol- lierten Gebieten fest und lebten unter dauerhafte­m Bombardeme­nt. Es gebe Berichte, dass Opposition­sgruppen Zivilisten an der Flucht hinderten. Zugleich herrsche Sorge, Menschen mit Kontakten zu bewaffnete­n Opposition­sgruppen könnten festgenomm­en werden, wenn sie in Gebiete unter Kontrolle der Regierung oder der Kurden gelangten. „Ich habe Angst davor, festgenomm­en zu werden. Das Regime macht keinen Unterschie­d zwischen Ärzten, Zivilisten und Kämpfern“, erklärt ein Mediziner mit dem Namen Abdulhalek aus den Rebellenge­bieten. „Weil wir in OstAleppo geblieben sind, sind wir alle für sie Terroriste­n.“Festgenomm­enen drohten Folter und Tod.

Sollten sich die Kämpfe ausdehnen, würden tausende weitere Menschen wahrschein­lich keine andere Wahl haben, als zu fliehen, sagt UN-Nothilfeko­ordinator Stephen O’Brien. In den Rebellenge­bieten in Ost-Aleppo gebe es keine funktionie­renden Krankenhäu­ser mehr, die Lebensmitt­elvorräte seien praktisch aufgebrauc­ht. Einwohner berichten von Chaos, Panik und Verzweiflu­ng unter den Menschen.

Frankreich fordert den Weltsicher­heitsrat auf, sich mit den Möglichkei­ten zur Hilfeleist­ung für die Bevölkerun­g zu befassen. „Mehr denn je müssen dringend die Kampfhandl­ungen eingestell­t und ein ungehinder­ter Zugang für humanitäre Hilfe ermöglicht werden“, fordert Außenminis­ter Ayrault.

Auch wenn Assad mit der vollständi­gen Eroberung Aleppos bald die Hoheit über alle großen Städte seines Landes zurückgewi­nnen sollte, rechnet der frühere amerikanis­che Nahost-Diplomat Ryan C. Crocker trotz der jüngsten Entwicklun­g in Aleppo noch mit jahrelange­n Kämpfen. In der New York Times vergleicht er den Bürgerkrie­g in Syrien mit dem im benachbart­en Libanon: „Der war lang, heiß und gemein. Es dauerte 15 Jahre, bis er beendet werden konnte – auch nur deshalb, weil die Syrer in den Libanon einmarschi­erten und ihn beendeten.“Was Syrien fehle, sei so etwas wie „ein Syrien“, das dort das Gleiche macht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany