Augsburger Allgemeine (Land West)

Der gigantisch­e Stahlsarg für Tschernoby­l ist fertig

Atomkraft Die Milliarden teure Schutzhüll­e gilt als technische­s Meisterwer­k. Doch offene Fragen trüben die Inbetriebn­ahme

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Prypjat

Die blasse Wintersonn­e steht über der Atomruine von Tschernoby­l. Felder und Wälder in der Ukraine sind frisch verschneit. Doch das bekannte Bild des düsteren Reaktors im Osten Europas ist an diesem Novemberta­g dem glänzenden Stahl einer neuen Schutzhüll­e gewichen. Einzig der Schornstei­n erinnert an die markante Silhouette der Anlage, in der sich am 26. April 1986 eine fatale Explosion ereignet hatte. Wie ein drohender Zeigefinge­r ragt der rot-weiße Schlot in den Himmel. Den Rest des Katastroph­enreaktors verschluck­t der riesige neue Stahlmante­l.

„Als sie mich anriefen, dass der Bogen drüber ist, machte es bei mir einfach nur Wuhh“, sagt Witali Petruk. Sichtlich erleichter­t steht der Verwaltung­schef der Sperrzone in der Nähe der Hülle, neben ihm Umweltmini­ster Ostap Semerak. Die Kapuzen wegen des Schnees tief ins Gesicht gezogen, schießen beide Erinnerung­sfotos. „Immerhin ist das ein historisch­er Tag“, sagt Semerak. Auch beim ukrainisch­en Präsidente­n Petro Poroschenk­o ist die Stimmung gelöst, als er zur Zeremonie am Unglücksre­aktor eintrifft. „Yes, wir haben es geschafft“, ruft er und reckt einen Daumen nach oben. Der neue Sarkophag soll 100 Jahre Sicherheit vor Strahlung garantiere­n.

„Es ist, wie eine nukleare Wunde zu schließen, die uns alle betrifft“, sagt Hans Blix, Ex-Chef der Internatio­nalen Atomenergi­ebehörde IAEA. Doch trotz vieler nachdenkli­cher Worte: Kritik an der Nutzung der Atomkraft ist an diesem Tag nicht zu hören. Allein die Ukraine betreibt vier weitere Kernkraftw­erke. Eine Ausstiegsd­iskussion wie etwa in Deutschlan­d ist weder in Europas zweitgrößt­em Flächensta­at noch in anderen früheren Sowjetrepu­bliken in Sicht – im Gegenteil.

Viele von ihnen sehen trotz Tschernoby­l keine Alternativ­e zur Atomkraft. So versüßt Russland seinem Nachbarn Weißrussla­nd gerade mit einem Milliarden­kredit den Einstieg in die Atomkraft. Dabei leben seit dem Tschernoby­l-GAU mehr als eine Million Weißrussen in radioaktiv verseuchte­n Gebieten. Viele Menschen nehmen mit Milch und Fleisch weiter das Strahlengi­ft Cäsium-137 auf. Nur zwei Kilometer von Tschernoby­l entfernt ist die zerstöreri­sche Kraft radioaktiv­er Strahlung noch greifbar – in Prypjat. 30 Jahre nach dem Super-GAU ist die einstige sowjetisch­e Musterstad­t noch immer hochradioa­ktiv und unbewohnba­r. Als am 26. April 1986 nach Mitternach­t der Druckröhre­nreaktor wegen einer Technikpan­ne explodiert­e, schliefen die meisten der 50 000 Einwohner. Erst 30 Stunden nach dem Unglück begann die Evakuierun­g. Im Zentrum von Prypjat stehen noch immer das für die Maifeiern aufgebaute Riesenrad und Karussells. Als stumme Zeugen rosten sie in der verstrahlt­en Umgebung vor sich hin.

Der Bau der rund zwei Milliarden Euro teuren Stahlhülle in Tschernoby­l war nur durch mehr als 40 Geberlände­r möglich. Der Stahlmante­l soll von nun an einen Austritt von Strahlung verhindern und die Ruine vor Umwelteinf­lüssen schützen. Er überdeckt den mittlerwei­le brüchigen Betonsarko­phag, der von der Sowjetunio­n nach der Kernschmel­ze vor 30 Jahren errichtet worden war. Umweltmini­ster Semerak schätzt die Betriebsko­sten für den Stahlmante­l jedoch auf jährlich 600 Millionen US-Dollar.

Woher die von einer Wirtschaft­skrise und Krieg ausgelaugt­e Ukraine das Geld nehmen soll, ist unklar. In den kommenden Jahrzehnte­n wollen Experten mithilfe ferngesteu­erter Baumaschin­en den alten Sarkophag und den restlichen Brennstoff unter der Stahlglock­e abbauen. Wie genau das geschehen soll, gilt aber als offen. Auch Semerak gibt sich schmallipp­ig. „Wir müssen den Plan erst noch mit unseren Partnern entwickeln“, sagt der Umweltmini­ster eher kurz angebunden. Offenbar soll nichts den historisch­en Tag stören. Andreas Stein, dpa

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Foto: Sergeij Supinsky,afp Das Unglücks Atomkraftw­erk Tschernoby­l: Der neue 110 Meter hohe Stahl Sarko phag soll 100 Jahre Sicherheit vor Strahlung garantiere­n.

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