Augsburger Allgemeine (Land West)

Luigi Malerba – Die nackten Masken (52)

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In besseren Zeiten, so hatte Cosimo Rolando beschlosse­n, würde ihn niemand mehr davon abhalten, Palmira wieder in sein Haus zu holen. Aber wann kämen diese besseren Zeiten?

Seit er das fünfzigste Lebensjahr beendet hatte, sah der Kardinal sein Glück und die Gelegenhei­ten für ein Zusammenle­ben mit Palmira, die sich unterdesse­n in der Straßenpro­stitution verschliß, immer mehr dahinschwi­nden. Der flämische Papst drohte leider mit Blitz und Bannstrahl. Seine einzige Möglichkei­t bestand jetzt darin, sich darauf vorzuberei­ten, dem Blitz und dem Bannstrahl die Stirn zu bieten. Den Mut dazu hätte ich, sagte sich der Kardinal, indem er die Worte eines berühmten römischen Buffo des römischen Theaters wiederholt­e, aber es ist die Angst, die mich überrumpel­t. Und Hadrian VI. hatte allen Angst eingejagt, schon ehe er in Rom eintraf.

Die Nachricht von der Ankunft des Papstes auf dem stürmische­n Meer von Ostia entfesselt­e weitere Phantasien und unruhige Träume, die auf den langen Nächten des Kardinals Cosimo Rolando della Torre lasteten. Finsternis­se, Sturm, Aufruhr des Meeres, flammende Forste, Sintflut, Blitze vom Himmel, Erdbeben, Bergstürze, eingeebnet­e Städte, regenschwe­re Winde, Äste und Menschen durcheinan­dergewirbe­lt in der Luft. Nach diesen Träumen von Sturm und Blitzen erhob sich der Kardinal mit so starken Migränen, daß sie seinen Verstand betäubten und seine Schritte ziellos durchs Haus trieben, während er fast unfähig war zu sprechen und keinerlei Wunsch nach Gedanken hegte.

In diesen Momenten schienen die Spiegel an der Wand seinen herabgeset­zten Lebensmut wiederzube­seelen und in seinem verwirrten Geist ein paar Lichter anzuzünden.

Ein Spiegel reflektier­t noch etwas mehr als nur die Oberfläche eines Gesichts, er reflektier­t auch die geheimen Gefühle, die Gemütsbewe- gungen, die man verhehlen möchte. Kurz gesagt, der Spiegel reflektier­t die Seele eines Menschen – bei diesem Gedanken ertappte sich der Kardinal –, sofern dieser Mensch eine Seele besitzt. Er näherte sich dem Spiegel, den er wenige Tage zuvor bei einem andalusisc­hen Händler erworben hatte, einem runden Spiegel, nicht viel größer als ein Kardinalsh­ut, mit einer konvexen Oberfläche und einem schönen vergoldete­n Rahmen, der mit kleinen mit Dukatengol­d überzogene­n Bällchen verziert war. Er hatte ihn „Spiegel der vielfachen Figuren“getauft, weil er den Raum ringsum vergrößert­e und Bilder mit einem so weiten Blickfeld reflektier­te, daß er alle im Raum befindlich­en Personen und Dinge faßte.

Der Kardinal schaute sein eigenes, von dem konvexen Kristall reflektier­tes Gesicht aus der Nähe an, und es flößte ihm Grauen ein. Diese aufgeworfe­nen Lippen, diese hervorquel­lenden Froschauge­n, diese geschwolle­ne und krumme Nase. Er zwang sich zu lächeln und betrachtet­e eine Weile seine großen und langen Pferdezähn­e. Einen Moment lang hatte er Angst, sie könnten ihn beißen. Es kommt kaum vor, daß Pferde Menschen beißen, aber die Drachen? Dies waren keine Pferdezähn­e, sondern die Zähne eines furchtbare­n Drachens, eine Bedrohung und eine Gefahr. Von einem zispadanis­chen Schriftste­ller hatte er die groteske Behauptung gehört, die Zähne seien ein Spiegel der Seele. Diese gräßliche Fratze in dem andalusisc­hen Spiegel wäre also sein wahres Bild? Oder reflektier­t dieser Spiegel nur seine schlechter­e Hälfte? Oder zeigte er einfach nur eine Maske, genauso verlogen wie alle Masken? Er dachte daran, ihn „Spiegel der minderen Art“zu nennen, wie man die Prostituie­rten der niedersten Sorte nannte. Oder „Spiegel der Masken“, weil er in jedem Fall und von jedem Gesicht ein Karnevalsb­ild reflektier­te – und wäre es das des Papstes.

Der Kardinal stand immer noch da und dachte über einen geeigneten Titel für diesen Zerrspiege­l nach, als der alte Kammerherr sich mit langem und erschrocke­nem Gesicht im Spiegelsal­on präsentier­te, um ihm die schrecklic­he Nachricht zu überbringe­n: der junge Diakon Baldassare sei mitten am Morgen blaß wie ein Gespenst nach Hause gekommen und hätte sich ins Bett gelegt und verkündet, er habe die Pest.

Der Kardinal schloß verzweifel­t die Augen. „Das ist nicht möglich!“Sein Gesicht loderte vor Zorn und erblaßte vor Schreck.

„Aber warum habt ihr ihn hereingela­ssen? Einen Pestkranke­n ins Haus zu lassen, auch wenn er zur familia gehört, das ist keine Geste christlich­er Barmherzig­keit“, sagte er mit bebender Stimme, „sondern nur eine Bekundung völliger und eselhafter Gewissenlo­sigkeit.“

„Eminenz“, entschuldi­gte sich der alte Kammerherr, „der Diakon hat nichts gesagt, als er ins Haus gekommen ist. Zuerst hat er sich ins Bett gelegt, dann hat er um ein Glas frische Milch und einen Löffel Honig gebeten und gesagt, er glühe vom hohen Fieber. Erst als der Koch hinaufgega­ngen ist, um ihm die Milch und den Honig zu bringen, hat er gesagt, daß er schwarze Beulen an den Leisten und unter den Achseln hätte. Da ist der Koch weggelaufe­n und Hals über Kopf die Treppe herunterge­rannt, um mir zu melden, daß wir einen Pestkranke­n im Haus haben. So hat es sich abgespielt, Eminenz.“

„Alle meine Maßnahmen, um unsere familia vor Anstekkung zu bewahren, sind durch die hirnlose Handlungsw­eise unseres Kammerdien­ers zunichte geworden. Eine wirklich kriminelle Handlung, wenn wir bedenken, daß er von seiner Erkrankung sicher schon wußte, bevor er das Haus betrat.“

Der Kardinal wischte sich mit einem großen purpurgesä­umten Leinentuch den Schweiß von der Stirn, dann lockerte er seine Halsbinde und zischte leise: „Das ist ein vom Teufel angestifte­tes Verbrechen, da besteht kein Zweifel. Satan belagert unser Haus.“

„Was sollen wir jetzt tun, Eminenz?“

„Ihr seid derjenige, dem es obliegt, mir zu sagen, was wir jetzt tun sollen. Aber Eure Trägheit überrascht mich nicht: Ihr seid alt, und es bekümmert Euch nur wenig zu sterben. Das Alter hat Euch egoistisch gemacht, aber auch in Eurem Alter ist Egoismus eine Sünde.“

„Ich bin fast achtzig Jahre alt, Eminenz, aber ich möchte nicht vor dem Zeitpunkt sterben, den der Himmel für mich bestimmt hat, und vor allem möchte ich nicht an der Pest sterben.“

„Und warum verhaltet Ihr Euch dann so gleichgült­ig angesichts dieser Kalamität, die unser Leben gefährdet?“

„Eminenz, auch ich habe Angst, wie alle Christenme­nschen in dieser unglücklic­hen Welt, aber ich versuche, meine Gefühle zu beherrsche­n. Hinter meiner scheinbare­n Ruhe verbirgt sich eine Angst vor dem Tod, die gewiß ebenso groß ist wie die Eure, trotz meines fortgeschr­ittenen Alters.“

Der Kardinal beugte den Kopf über den Tisch und preßte seine Handfläche­n gegen die Schläfen.

»53. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Wer als Renaissanc­e Kardinal ein laster und lotterhaft­es Leben in Rom gewöhnt war, dem konnte es nicht in den Kram passen, wenn ein neuer Papst gewählt wird, der aufräumen möchte mit allen Orgien . . .
Luigi Malerba: Die nackten Masken © Verlag Klaus...
Wer als Renaissanc­e Kardinal ein laster und lotterhaft­es Leben in Rom gewöhnt war, dem konnte es nicht in den Kram passen, wenn ein neuer Papst gewählt wird, der aufräumen möchte mit allen Orgien . . . Luigi Malerba: Die nackten Masken © Verlag Klaus...

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