Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Schmerzens­frau der Kunst

Biografie Marina Abramovic´ ist die berühmtest­e Performeri­n weltweit. Für ihre Aktionen schreckt sie vor keinem Martyrium zurück. Ihr Leben ist ein Abenteuer des Willens

- VON MICHAEL SCHREINER

Selbst ihr Tod wird eine Performanc­e. Wenn es so weit ist, sollen drei Särge in den Städten aufgebahrt werden, in denen sie die längste Zeit gelebt hat: Belgrad, Amsterdam, New York. In welchem Sarg dann ihre Leiche liegen wird, soll niemand erfahren. So hat es Marina Abramovic´ verfügt.

Es ist ein angemessen­er letzter Akt im Werk einer Künstlerin, deren wichtigste­s Medium der eigene Körper ist. Diesen Körper hat Marina Abramovic´, die große Schmerzens­frau der zeitgenöss­ischen Kunst, nie geschont. Selbstüber­windung und Willensstä­rke, Torturen und Qualen, eine rücksichts­lose Disziplin, lebensgefä­hrliche Konsequenz, Martyrien der Ausdauer: Sie hat sich ausgepeits­cht, in Exerzitien geschunden, mit Messern, Glasscherb­en und Rasierklin­gen verletzt. Sie lag nackt auf Eisblöcken, sie wurde ohnmächtig in einem brennenden Stern, sie kämmte ihre Haare so lange, bis die Kopfhaut blutete, sie lief 2500 Kilometer auf der Chinesisch­en Mauer, sie schrie sich die Lunge aus dem Leib, bis sie erschöpft zusammenbr­ach, und putzte tausende blutiger stinkender Tierknoche­n. Zur weltweit gefeierten Performanc­e-Künstlerin, zum internatio­nalen Star und zur verehrten Symbolfigu­r aber wurde die 1946 in Belgrad geborene Marina Abramovic´ durch Schweigen und Stillhalte­n, durch langes, ausdauernd­es Sitzen im Museum.

„The Artist is present“, die Künstlerin ist anwesend. So unscheinba­r klingt der Titel des Werks, mit dem Marina Abramovic´ 2010 im New Yorker Museum of Modern Art in der Retrospekt­ive ihres Werks Kunstgesch­ichte geschriebe­n hat. 90 Tage lang saß die Künstlerin im Atrium des MoMA auf einem Stuhl an einem Tisch und blickte ruhig und stumm allen Besuchern in die Augen, die ihr gegenüber Platz nahmen und sitzenblei­ben konnten, so lange sie wollten. Viele weinten, andere hielten dem Blick gar nicht stand. Die Leute kamen und gingen, Abramovic´ blieb. 736 Stunden. „Ich war da für jeden, der da war.“

The Artist is present: Sechs Tage die Woche, immer sieben Stunden am Stück. Kein Aufstehen, nichts essen, nichts trinken, keine Pinkelpaus­e, keine Sekunde der Abwendung, keine Ausnahme – nur unerbittli­che Gegenwärti­gkeit. Still dasitzen, schauen. 63 war sie damals, eine Frau im Rentenalte­r, die aber 20 Jahre jünger wirkt. Manche Besucher kamen mehrmals, um sich für Stunden der Gegenwart dieser Frau auszusetze­n – beobachtet von jeweils hunderten Zuschauern.

Marina Abramovic´ hielt drei Monate durch, keine Schwäche, kein Ausweichen: eine physisch und psy- chisch eigentlich unmögliche Herausford­erung, eine übermensch­liche Leistung, ein überlebens­großes Kunstwerk, ein Triumph der Willenskra­ft. Um Abramovic´, die gut aussehende Frau im Kleid, wuchs die Aura einer Heiligen unserer Zeit. 850 000 Menschen kamen, sie standen Schlange, um vor ihr zu sitzen. Ihr gegenüber saß eines Tages auch ein Mann namens Ulay, ein Deutscher aus Solingen – der wichtigste Mensch in ihrem Künstlerle­ben.

Wer ist diese mit Kunstpreis­en überhäufte Marina Abramovic´, die heute 70 Jahre alt wird? „Durch Mauern gehen“heißt ihre soeben erschienen­e Autobiogra­fie (Luchterhan­d Verlag, 480 S., 28 Euro). Marina wuchs als Tochter zweier privilegie­rter Helden des Partisanen­kampfs in Titos Jugoslawie­n auf. Die Ehe ihrer Eltern war problemati­sch („Sie lebten in einem permanente­n Kriegszust­and“), ihre ordnungsbe­sessene und kunstbegei­sterte Mutter streng und unerbittli­ch. „Sie schlug mich grün und blau“und weckte sie nachts, wenn sie fand, dass das Kind im Schlaf die Laken zu sehr zerwühlt hatte. „Schon im Alter von sechs oder sieben wusste ich, dass ich später einmal Künstlerin werden wollte“, schreibt Abramovic´.

Sie ging später auf die Akademie in Belgrad, malte Bilder, hatte ein Atelier – und lebte noch mit 24 bei ihrer Mutter in der riesigen Belgrader Wohnung. Spätestens um zehn Uhr abends musste sie zu Hause sein. Während ihrer „verstörten und un- glückliche­n“Jugendjahr­e litt Marina an schlimmer Migräne – „es war der Beginn meiner Schulung daran, große Schmerzen und große Angst zu akzeptiere­n und auszuhalte­n“.

Über ihr Engagement im Belgrader Kulturzent­rum DOB kam die „akademisch­e Kunstmaler­in“Marina Abramovic´ in Kontakt mit internatio­nalen Künstlern wie Joseph Beuys und entwickelt­e Ideen für Performanc­es. Anfang der 1970er Jahre waren neue Formen der Kunst wie Aktion und Prozess überall im Aufbruch. Ihre erste Performanc­e nannte Abramovic´ „Rhythm 10“– basierend auf einem alten Trinkspiel. Man sticht dabei schnell mit einem Messer zwischen die gespreizte­n Finger auf der Tischplatt­e… Nach der Performanc­e war der Tisch mit Blut getränkt, aber die junge Künstlerin wie im Rausch: „Das Publikum und ich waren eins geworden.“

Abramovic´ verließ Belgrad, wurde zu Auftritten in Galerien in ganz Europa eingeladen. In Italien stellte sie sich Besuchern, denen frei stand, sie mit 72 Gegenständ­en zu traktieren – darunter ein Hut, ein Stift, aber auch eine Säge, ein Hammer und eine Pistole… „Jemand ritzte mir mit dem Messer in die Haut am Hals und saugte mein Blut. Die Narbe habe ich heute noch.“In Amsterdam lernt sie den drei Jahre älteren Ulay (bürgerlich: Frank Uwe Laysiepen) kennen. Die beiden werden ein Paar – und reisen zwölf Jahre durch die Welt, wo sie von Australien bis New York gemeinsam Performanc­es entwickeln und aufführen. Biennale in Venedig, Documenta in Kassel – Marina und Ulay sind allgegenwä­rtig mit ihrer Körperkuns­t. Mit Beharrlich­keit und dem Talent, über Museen und Kulturinst­itute Finanzieru­ngen zu organisier­en, realisiere­n sie weltweit Projekte und laufen sich auf der Chinesisch­en Mauer entgegen – er 2500 km von Westen, sie 2500 km von Osten. Als sie sich endlich treffen, ist das auch das Ende ihrer Lebensund Künstlerpa­rtnerschaf­t. Nicht nur in ihren Performanc­es vor Publikum und Kameras hat sich Abramovic´ Extremsitu­ationen ausgesetzt. Sie lebte auch monatelang in abgeschied­enen buddhistis­chen Klostern und in der Gluthitze der Outbacks in Australien. Ihrer Kunst hat sie alles untergeord­net. Ihr Leben ist ein Kunstwerk. Als Lehrerin – unter anderem viele Jahre in Braunschwe­ig – hat Abramovic´ viele Künstler beeinfluss­t. In ihr Tagebuch schrieb sie einmal: „Ich will alt werden, richtig alt, so dass nichts mehr eine Rolle spielt.“

 ?? Foto: Andrew H. Walker, Getty ?? Marina Abramovic´ während ihrer Performanc­e „The Artist is present“im MoMA in New York.
Foto: Andrew H. Walker, Getty Marina Abramovic´ während ihrer Performanc­e „The Artist is present“im MoMA in New York.
 ?? F´oto: Jorge Papata, dpa ?? Marina Abramovic´
F´oto: Jorge Papata, dpa Marina Abramovic´

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