Augsburger Allgemeine (Land West)

Dürfen Lehrer ihre Schüler einsperren?

Prozess Pädagogin schließt Neunjährig­en einige Minuten im Nebenraum ein. Gestern stand sie deshalb wegen Freiheitsb­eraubung vor Gericht

- VON NICOLE SIMÜLLER

Aichach

Der Neunjährig­e will früher von der Schule nach Hause. Er will, dass seine Mama ihn abholt. Die Lehrer erreichen sie telefonisc­h nicht auf Anhieb. Der Bub, der auf eine Förderschu­le in Aichach geht, wird massiver: Er kündigt an, selbst nach Hause zu gehen. Das aber will die Lehrerin nicht. Sie hat Sorge, dass ihm etwas passiert. Deshalb ruft sie weiter bei der Mutter an. Damit ihr der Bub währenddes­sen nicht entwischt, bringt sie ihn in einen Gruppenrau­m neben ihrem Klassenzim­mer, schließt die Zwischentü­r ab und schaut später noch einmal nach ihm. Zehn, höchstens 15 Minuten bleibt er dort, rekonstrui­ert der Richter später.

Minuten, die der Lehrerin eine Anklage wegen Freiheitsb­eraubung und fahrlässig­er Körperverl­etzung im Amt einbringen. Gestern steht sie vor dem Jugendgeri­cht Aichach. In ihrer Aussage klingt durch, dass der Schüler an jenem Tag im Juni widerspens­tig ist. Eine Kollegin wendet sich deshalb, wie vereinbart, an die angeklagte Klassenleh­rerin. Die ist im Zwiespalt: Sie ruft weiter bei der Mutter an, will aber verhindern, dass der Bub in dieser Zeit wegläuft. „Ich habe versucht, beruhigend auf ihn einzuwirke­n.“Dass die Mutter bereits aus anderen Gründen an der Schule ist, erfährt sie erst einige Minuten später.

Die Mutter kämpft vor Gericht mit den Tränen: „Mein Sohn hockte auf dem Boden wie ein Häufchen Elend. Er hatte sich übergeben.“Seit damals schlafe ihr Sohn nicht mehr alleine im Kinderzimm­er. Sie müsse sich zu ihm ins Bett legen.

Richter Axel Hellriegel spricht mit dem Neunjährig­en – die Lehrerin verlässt den Saal in dieser Zeit auf Bitte der Mutter hin. Der Bub erzählt, er habe in dem Nebenraum Angst gehabt. Der Richter hakt vorsichtig nach: Er sei doch schon öfter dort gewesen. „Ja, wenn es Streit gab“, sagt der Bub. Die Mutter bestätigt, dass die Lehrerin ihn öfter in den Raum brachte, wenn er den Unterricht störte. „Aber da war die Zwischentü­re offen“, sagt sie.

Klassenzim­mer und Nebenraum liegen im Erdgeschos­s. Während das Kind damals auf die Rückkehr der Lehrerin wartet, öffnet es die fast bis zum Boden reichenden Fenster zum Pausenhof, um mit Freunden zu reden, bleibt aber drinnen. Da der Bub den Raum also hätte verlassen können, müssen Staatsanwä­ltin Beate Morhart und Verteidige­r Michael Reinhart gar nicht mehr plädieren. Richter Hellriegel spricht die Lehrerin frei. Staatsanwa­ltschaft und Verteidigu­ng verzichten auf Rechtsmitt­el. Das Urteil ist rechtskräf­tig.

Könnte so ein Fall nicht besser an der Schule als vor dem Strafgeric­ht geklärt werden? Der Richter verweist auf das Gesetz. Das sehe nun einmal den Tatbestand der Freiheitsb­eraubung vor. Als Disziplini­erungsmaßn­ahme sei es nicht erlaubt, einen Schüler einzusperr­en. Bestehe die Gefahr, dass er weglaufe, sei die Sache komplizier­ter. Strafrecht­lich gebe es dazu kein Urteil. Der Richter sagt: „Die Lehrer werden da schon ein bisschen allein gelassen.“An der Schule habe es offenbar keine klare Anweisung gegeben.

Dazu gehen die Ansichten auseinande­r. Laut Lehrerin traf die Schule erst danach eine Regelung. Die Schulleite­rin stellt das anders dar: Sie habe der Lehrerin sofort nach dem Vorfall gesagt, „dass Einsperren nicht geht“. Arbeitsrec­htliche Folgen habe es für die Lehrerin zwar nicht gehabt. Doch es gebe „eine klare Absprache mit den Eltern“, Kinder in solchen Fällen laufen zu lassen und das Sekretaria­t zu verständig­en. Anlass sei ein Vorfall von 2015, bei dem eine Lehrerin einen Schüler festhielt und verletzt wurde.

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