Augsburger Allgemeine (Land West)
Warum die Miete in der Fuggerei 88 Cent beträgt
Das Fugger-Archiv in Dillingen bewahrt auch einige Objekte auf. Mit ihnen sind erstaunliche Geschichten verknüpft – etwa der Lebensweg des letzten Grafen eines alten böhmischen Adelsgeschlechts
Manchmal lassen sich Geschichten am einfachsten erzählen, wenn man den passenden Gegenstand dafür zur Hand nimmt. Dann ist es erstaunlich, wie viel Dinge erzählen können, wenn sie ein Historiker zum Sprechen bringt. Das Fugger-Archiv zum Beispiel ist nicht nur eine Quelle für alte Dokumente und Unterlagen, es bewahrt auch Objekte auf, die im Zusammenhang mit der Geschichte der Fugger stehen.
Franz Karg, der Archivar des Fugger-Archivs, hat mit seinen Mitarbeitern Stefan Birkle und Claudia Gutsein sowie mit Professor Dietmar Schiersner, dem wissenschaftlichen Leiter des Fugger-Archivs einige Objekte genauer untersucht. Deren Geschichten reichen bis ins frühe 16. Jahrhundert zurück und leuchten verschiedene Aspekte aus.
Zum Beispiel findet sich im Fugger-Archiv eine Abschrift der Urkunde, aus der hervorgeht, wieso die Bewohner der Fuggerei bis heute als Jahresmiete einen Rheinischen Gulden bezahlen müssen. Im Gegenzug für steuerliche Erleichterungen der Stadt Augsburg hat sich im Jahr 1516 Jakob Fugger dazu verpflichtet, von den Bewohnern der Fuggerei nicht mehr als einen Rheinischen Gulden Jahresmiete zu verlangen. Ein Vergleich mit der freien Reichsstadt Nürnberg zeigt, dass das damals eine günstige aber doch auch mehr als eine symbolische Miete war. In Nürnberg kostete eine vergleichbare Wohnung 2 bis 2,5 Gulden im Jahr. Heute ist die nominale Entsprechung für einen Rheinischen Gulden 88 Cent – ein Betrag, der unschlagbar günstig ist und nur noch einen symbolischen Wert hat. Der zugrunde liegende Vertrag dafür ist seit 500 Jahren in Kraft.
In die Geschichte des Handwerks führt ein seltsames Stück Holz, das aus der Fuggerei stammt. Dem fünf Zentimeter starken Brett sieht man auf den ersten Blick an, dass es alt ist. Es wurde mit einer Axt geschlagen. Dann hat das Holzstück zwei unterschiedliche Seiten. Die eine ist blank; auf ihr finden sich Farbreste in mehreren Schichten. Diese Seite des Holzes wurde von den Bewohnern der Fuggerei alle paar Jahre frisch überstrichen. Aus der anderen Seite des Bretts ragen etliche starke Holzstifte heraus. Auf dieser Seite des Bretts wurde ein Putz aus Stroh und Lehm aufgetragen, um eine Holzbohlenwand herzustellen. Solche Wände fanden sich in der Fuggerei dort, wo die Wände keine Last zu tragen hatten. Wenn heute bei Modernisierungen alte Holzbohlen- wände in der Fuggerei gefunden werden, werden sie aus Denkmalschutzgründen erhalten. Aus welcher Zeit genau das Holzbrett im Fugger-Archiv stammt, ist noch zu bestimmen.
Eine Milchkanne führt auf die Spur einer besonderen Fuggerei-Bewohnerin. Sie heißt Christina Heichele und wurde 1765 geboren. Sie war Protestantin, konvertierte 1791 zum Katholizismus und wurde mit ihrem Mann seit 1792 als Bewohnerin der Fuggerei geführt. Als ihr Mann 1814 starb, stellte Heichele den Antrag, einen Stall bauen zu dürfen, um dort eine eigene Kuh zu halten. Der Antrag wurde unter der Auflage genehmigt, die Gassen der Fuggerei zu reinigen, falls die Kuh sie verunreinige. Überliefert ist im Fugger-Archiv auch noch, dass Christina Heichele zwei Mal vergeblich versuchte, Hochzeiten für sich zu arrangieren, ohne dabei den Anspruch auf die günstige Wohnung zu verlieren. Danach ist ihr Weg nicht mehr zu verfolgen.
Im Archiv findet sich auch ein Koffer aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Dieser kam aus dem Speicher des Schlosses Blumenthal ins Archiv. Das Schloss gehörte von 1870 bis 2006 zu den Fuggerschen Stiftungen. Nach dem 2. Weltkrieg bot Blumenthal Flüchtlingen und Vertriebenen eine Unterkunft. Später wurde es ein Altenheim – für die, die geblieben waren, aber auch für die Menschen aus der Region. Auffällig in Blumenthal war, dass unter den ersten Bewohnern nach dem Krieg viele Adlige waren. Diese Geschichte erzählt dieser Koffer für die Forscher. Auch wenn sie nicht genau sagen können, wer der Besitzer war, stellvertretend für viele führen sie das Schicksal von Graf Karl Chotek an, der Nachfahre eines uralten böhmischen Adelsgeschlechts, das bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht.
Der Name Chotek taucht in der Weltpolitik des 20. Jahrhunderts einmal kurz auf – in Form von Gräfin Sophie Chotek. Sie heiratete in nicht standesgemäßer Ehe den österreichischen Erzherzog Franz Ferdinand. Und der Preis dafür war, weder Königin noch Kaiserin werden zu können. Außerdem wurden die künftigen Kinder des Paares von der Thronfolge ausgeschlossen. Am 28. Juni 1914 starb Sophie Chotek gemeinsam mit ihrem Mann in Sarajevo – getötet durch die Schüsse eines serbischen Nationalisten, die zum Ausbruch des 1. Weltkriegs führten.
Die Geschichte des Koffers führt aber zu Graf Karl Chotek, ein Verwandter von Sophie Chotek. Der Graf und alle anderen Choteks wurden nach 1945 enteignet. Völlig mittellos kam Graf Karl Chotek aus Böhmen nach Blumenthal. In Zimmer Nummer acht lebte er bis 1970. Die adlige Herkunft trat bei seiner Bestattung auf dem Dorffriedhof deutlich hervor: Nachdem der Sarg in die Grube abgelassen wurde, erhob sich eine Stimme und fragte in die vier Himmelsrichtungen: „Ist da ein Chotek?“Weil aus keiner Richtung eine Antwort kam, wurde das Wappen der Chotek am Grab zerschlagen. Auch solche Geschichten werden im Fugger-Archiv bewahrt.