Augsburger Allgemeine (Land West)

Der bayerische Industrie Adel

Geschichte Wie die königliche­n Kommerzien­räte ab 1880 zur Stütze der Gesellscha­ft wurden. Am Augsburger Lehrstuhl für Bayerische Landesgesc­hichte entstand dazu das erste Handbuch

- VON ALOIS KNOLLER

Augsburg

Ein Platz ist nach ihm benannt, seine Büste stand im Eingang der Schule, er war Ehrenbürge­r und erhielt ein Mausoleum im Stil einer griechisch-orthodoxen Kirche auf dem Friedhof: Kommerzien­rat Georg Käß (1823–1903), Besitzer der Bleicherei und Appretur-Anstalt Haunstette­n. Vor allem verdankt ihm seine Gemeinde, die 1972 zur Stadt Augsburg kam, ein Krankenhau­s, das als Klinikum-Süd noch immer besteht. Käß ist ein Musterbeis­piel eines Standes, den die Landeshist­orikerin Marita Krauss in einem Standardwe­rk auf 850 Seiten erstmals umfassend würdigt: den bayerische­n Kommerzien­rat.

Eine deutsche „Wirtschaft­selite“nennt Krauss diese als Unternehme­r erfolgreic­hen Herrschaft­en, unter die sich ein einzige Dame mischt: die Nähmaschin­enfabrikan­tin Lina Pfaff (1854–1929) aus Kaiserslau­tern, das damals noch zur königlichb­ayerischen Pfalz gehörte. An insgesamt 1850 Personen wurde der Titel in knapp 50 Jahren verliehen und er verschafft­e nicht nur Ehre und gesellscha­ftliches Ansehen, sondern oft auch Einfluss auf politische Entscheidu­ngen. Nach der Pfeife der bayerische­n Kommerzien­räte hatten viele zu tanzen.

Sie waren Männer, die eine Stadt voranbrach­ten. Als 1932 in Memmingen der Leim- und Gelatinefa­brikant Johann Pfeffer starb, wurde er betrauert als ein Mann, der in Jahrzehnte­n „den Ruhm und das Ansehen Memmingens vermehrt, viel Arbeit gegeben und soziale Hilfe gespendet hat“. Die Kommerzien­räte waren die Zugpferde der örtlichen Wirtschaft, im Unterallgä­u dazu mit Erfinderge­ist begabt. Die Osterriede­r-Werke in Lautrach führten ihre Gründung auf den ersten fahrbaren Höhenförde­rer zurück, der dem gelernten Schlosser Georg Osterriede­r gelang. Pfeffer galt durch den Einsatz des Thomasschl­ackenmahlw­erks als Vorreiter seiner Branche. Der Textilfabr­ikant Rudolf Neunhöffer ließ sich die Umstellung von Garn auf Baumwolle und später auf Papier während des Ersten Weltkriegs patentiere­n.

Um Kommerzien­rat zu werden, musste man einige Voraussetz­ungen erfüllen: natürlich wirtschaft­lich erfolgreic­h sein, sehr wohlhabend und ein guter Steuerzahl­er, dazu die Bonität eines ehrlichen Kaufmanns genießen, mit seiner Arbeitersc­haft gut umgehen und als Mäzen die öffentlich­e Wohlfahrt fördern. 1880 begann König Ludwig II. den Titel „für höhere Kaufleute und Industriel­le“zu verleihen. Im Hinter- grund schwang Marita Krauss zufolge die Erwartung des Regenten mit, sich neben der hohen Beamtensch­aft damit eine loyale Führungssc­hicht zu erwerben. Übrigens sind neben Katholiken und Protestant­en auch rund 270 jüdische Unternehme­r Kommerzien­räte geworden.

Immerhin verhalfen die Firmen der Kommerzien­räte Bayern ökonomisch zu einer führenden Stellung im Deutschen Reich. In so wichtigen Branchen wie Textil, Maschinenu­nd Apparateba­u, Chemie, Nahrungs- und Genussmitt­el hatten sie die Nase vorn. Im Bieraussto­ß nahmen bayerische Brauereien sogar einen Spitzenpla­tz ein: Im Jahr 1913 wurde ein Zehntel des weltweit getrunkene­n Biers hier gebraut. Kein Wunder, dass unter den bayerische­n Kommerzien­räten (Multi-) Millionäre waren, etwa die Münchner Brauer Gabriel Sedlmayr und Georg Pschorr. Von 641 bayerische­n Kommerzien­räten im Jahr 1914 besaßen 281 mindestens eine Million Mark. Zusammen gehörten dieser Gruppe mindestens 693 Millionen Mark, listet das Buch auf.

Ein großspurig­er Lebensstil wurde in diesen Kreisen gepflegt. Die Zigarre war das Statussymb­ol, man besaß eine repräsenta­tive Villa und ließ die Dienstbote­n springen, man umgab sich mit Kunst und hatte ein Automobil. Auf der Bühne und in der Satire, etwa im Simpliciss­imus, wurde der Kommerzien­rat – und noch lieber „Frau Kommerzien­rat“– allmählich zur Witzfigur. Doch als Wohltäter, die auch beträchtli­che Summen für karitative, soziale und kulturelle Zwecke zur Verfügung stellten, genossen sie weiterhin hohes Ansehen. So ließ der Augsburger Papierfabr­ikant Clemens Haindl nicht nur 200 Arbeiterwo­hnungen errichten, sondern stiftete zusammen mit seinem Bruder Friedrich 1915 auch eine Konzertorg­el im Augsburger Ludwigsbau – die zur Einweihung der 18-jährige Bertolt Brecht hymnisch bedichtete.

Acht Jahre lang beschäftig­te Marita Krauss das Projekt und sie band darin eine Fülle weiterer Historiker und Archivare ein. So zeichnen 35 Aufsätze ein differenzi­ertes Bild der bayerische­n Kommerzien­räte und ein biografisc­hes Lexikon erschließt auf 350 Seiten tatsächlic­h alle 1850 Titelträge­r in Kurzdarste­llungen. Eine wahre Fundgrube für die bayerische Wirtschaft­sgeschicht­e und für die weitere Forschung. O

„Die bayeri schen Kommerzien­räte. Eine deutsche Wirtschaft­selite von 1880 bis 1928“, Volk Verlag München, 848 Seiten mit zahlreiche­n Abbildunge­n, 69 Euro.

Marita Krauss (Hrsg.):

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Foto: Familie Neudegger Selbstbewu­sste Unternehme­r: Drei Generation­en feiern 1929 den 70. Geburtstag des Kommerzien­rats Johann Pfeffer aus Memmingen.

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