Augsburger Allgemeine (Land West)

Wenn es eng wird auf der Erde

Serie Alle Prognosen deuten auf Wachstum hin: Immer noch mehr Menschen werden zu immer noch größeren Teilen in den ärmeren Ländern geboren und in Metropolen leben. Und damit wachsen auch die Herausford­erungen

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Es gibt Sorgen, die lassen sich tatsächlic­h erst mal allein durch Zahlen bemessen. Eine der größten des 21. Jahrhunder­ts ist das beste Beispiel. Man braucht eben noch nicht mal auf absehbare Konsequenz­en wie wachsende Umweltprob­leme und wachsende Verdrängun­gskonflikt­e, wachsende Ressourcen­krisen und wachsende Migrations­wellen, wachsende Versorgung­snöte und wachsende Vormachtsk­riege zu schließen, um zu erkennen: Das zu erwartende Wachstum der Weltbevölk­erung stellt die Menschheit auf dem Weg in die Zukunft vor riesige Herausford­erungen.

Die neueste Statistik der Vereinten Nationen sagt: Nach rund 2,5 Milliarden im Jahr 1950 hat die Zahl der Menschen auf der Erde soeben die Schwelle von 7,5 Milliarden überschrit­ten – eine Verdreifac­hung in 50 Jahren also. Nach statistisc­hen Projektion­en wird sie bis 2030 auf 8,5 und bis 2050 auf 9,7 steigen – in 33 Jahren von heute an also noch mal eine Steigerung um ein Drittel. Und bis 2100 sollen es 11,2 Milliarden Exemplare der Spezies sein, die die Erde schon jetzt längst so sehr prägt, dass Wissenscha­ftler erstmals ein Erdzeitalt­er nach einem Lebewesen benennen wollen, das Zeitalter der Menschheit: Anthropozä­n.

Wir befinden uns jedenfalls bereits im „Jahrtausen­d der Städte“. Das hat der ehemalige UN-Generalsek­retär Kofi Annan ausgerufen, fußend auf dem Befund: Inzwischen wohnt mehr als die Hälfte der Menschen in den immer größer werdenden Metropolen, bis zum Jahr 2050 sollen es sogar zwei Drittel der Menschen sein. Und schaut man sich eine der am schnellste­n wachsenden unserer Zeit an, wird deutlich, was das bedeuten könnte.

Seit 1950 hat sich die städtische Bevölkerun­g in der Welt insgesamt mehr als vervierfac­ht. Lagos in Nigeria hatte damals ganze 280000 Einwohner – überschrit­t in den Sechzigern die Millioneng­renze und im noch frischen Jahrhunder­t die Zehn-Millionen-Grenze. Es zählte 2016 rund 17,5 Millionen Einwohner – aber genau weiß das niemand. Denn täglich strömen Tausende aus verödenden ländlichen Gegenden hierher, in der Hoffnung auf Arbeit und eine Zukunft für ihre Familien. Weit über die Hälfte der Bewohner von Lagos aber lebt in den Slums, in reiner Armut, von der Hand in den Mund. Bis 2030 rechnen die Vereinten Nationen mit bis zu 25 Millionen Menschen in Nigerias heimlicher Hauptstadt.

Das afrikanisc­he Beispiel ist kein Zufall. Denn der größte Teil der Weltbevölk­erung wird im Jahr 2100 den Prognosen nach zwar weiterhin mit dann rund fünf Milliarden aus Asien kommen – aber der Anteil Afrikas wird am stärksten wachsen. Herunterge­brochen auf ein Modelldorf des Durchschni­tts mit 100 Einwohnern: 1950 kamen davon neun aus Afrika, heute sind es 16, im Jahr 2100 werden es den Prognosen nach 39 vom ärmsten Kontinent sein. Im Vergleich wären demnach von 22 Europäern 1950 dann nur noch sechs übrig. Und schon im Jahr 2050 werden etwa 90 der 100 Bewohner in einem Entwicklun­gsland leben.

Schon heute ist jeder dritte Mensch in jenen Regionen ein Kind oder ein Jugendlich­er, in Afrika sind 41 Prozent der Bevölkerun­g unter 15, während das Durchschni­ttsalter der Deutschen etwa immer weiter steigt und im Jahr 2100 über 50 Jahre liegen wird. Ganz ohne Einwanderu­ng, so das Berlin-Institut für Bevölkerun­g und Entwicklun­g, hätte die Bundesrepu­blik dann nur noch 25 Millionen Einwohner – mit Migration laut Weltdatena­tlas gut 63 Millionen. Derzeit sind es 83 Millionen (was ziemlich genau der Zahl entspricht, die die Weltbevölk­erung derzeit Jahr für Jahr wächst) .

Überhaupt ist Europa nach der Studie der einzige Kontinent, auf dem die Bevölkerun­g zurückgehe­n wird – von derzeit 738 Millionen auf 646 Millionen im Jahr 2100. Während Nordamerik­a zwar vergleichs­weise langsam, aber dennoch wächst, von 358 auf 500 Millionen. Bevölkerun­gsreichste­s Land der Erde wird schon im Jahr 2022 nicht mehr China sein, sondern Indien, wo dann über 1,4 Milliarden leben sollen. Dort soll wohl erst im Jahr 2060 der höchste Wert erreicht werden – und zwar 1,75 Milliarden, danach wird die Zahl sinken.

Denn Indien ist zugleich ein Beispiel, wie sich all diese Berechnung­en als vorläufig herausstel­len können und die Probleme damit nicht mehr gar so übermächti­g erscheinen. Lange war eine Bevölkerun­gsexplosio­n auf dem Subkontine­nt erwartet worden. Der US-Biologe Paul Ehrlich hatte in seinem Buch „Die Bevölkerun­gsbombe“Indien zum Symbol der drohenden Übervölker­ung der Welt gemacht, samt Hungersnöt­en und anderen Katastroph­en. Aber inzwischen ist die durchschni­ttliche Zahl an Kindern pro Frau deutlich zurückgega­ngen, liegt in den Städten mit 1,8 nur noch knapp über dem Wert der EU. Und das, ohne dass es drakonisch­er Kontrollma­ßnahmen wie die Ein-KindEhe in China dafür bedurft hätte. Rema Naragajan, Reporter der Zeitung Times Of India, erklärt das so: „Die beste Empfängnis­verhütung nennt sich Wohlstand. Es ist überall auf der Welt das Gleiche: Je besser Frauen gebildet sind, je höher ihr Status in der Gesellscha­ft ist und je leichter sie verhüten können, umso weniger Kinder haben sie. Und in entwickelt­en Ländern bevorzugen auch Männer kleinere Familien.“

So gesehen leidet Deutschlan­d an einem Luxusprobl­em im Wortsinne. Wenn die durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung weiter wie angenommen steigt und sich immer weiter der 90-Jahre-Marke annähert – und wenn zugleich die Geburten deutlich unter der Zahl von 2,1 Kindern pro Frau bleiben, die statistisc­h nötig ist, damit eine Gesellscha­ft nicht schrumpft: Dann müssen statt heute 2,9 Beschäftig­te im Jahr 2100 1,4 im Schnitt für einen Rentner sorgen. Noch stärkere Rückgänge erwarten die Statistike­r durch steigende Lebenserwa­rtungen für die USA (von 4,6 auf 1,9), China (von 7,8 auf 1,8), Brasilien (von 8,6 auf 1,5) und Indien (von 10,9 auf 2,3). Und das ist nur die Geschichte, die allein die Bevölkerun­gszahlen erzählen.

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Foto: P. U. Ekpeki, afp Eine der am dichtesten besiedelte­n Megacitys der Welt wächst immer weiter: Lagos in Nigeria.
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