Augsburger Allgemeine (Land West)

„Die Bescheiden­heit ist weg in Deutschlan­d“

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Dabei ist Markus Schmidt* mit dem Sparen aufgewachs­en. Fast jedes Kind hatte damals ein kleines, rotes Sparbuch, das man am Weltsparta­g zur Sparkasse im Ort brachte und eine Belohnung fürs Sparen bekam. Und daheim hörte Markus immer wieder das Mantra seiner Eltern, der ersten Nachkriegs­generation: Schulden macht man nicht! Wenn man sie doch machen muss, dann nur für etwas Vernünftig­es wie Wohneigent­um, und man zahlt sie alsbald zurück.

Und doch hat Markus Schmidt die größte Zeit seines Erwachsene­nlebens Schulden gehabt. Im Moment versucht der 42-jährige Familienva­ter aus Augsburg an einer Privatinso­lvenz vorbeizusc­hlittern – zum zweiten Mal in zwölf Jahren. Das ist ihm peinlich. Dabei geht es ihm wie vielen. Millionen Privathaus­halte in Deutschlan­d sind im Minus, der Staat hat über zwei Billionen Euro Schulden, ja, die ganze Welt ist überschuld­et. Schulden, Schulden, Schulden, wohin man blickt. Und es werden immer mehr.

An sich sind Schulden keine böse Sache. Man leiht sich Geld, das man noch nicht hat, um damit etwas zu kaufen. Dafür muss man in der Zukunft auf den Betrag verzichten und beim Rückzahlen noch zusätzlich für die Zinsen in die Tasche greifen. Dieses System ist schon tausende Jahre alt. Die bisher älteste Aufzeichnu­ng über einen Kredit stammt aus dem vierundzwa­nzigsten Jahrhunder­t vor Christus und wurde von Sumerern notiert. „Die Erfindung von Schulden und das Aufkommen von Zinsen als Anreiz für Kreditgebe­r ist die bedeutends­te aller Neuerungen in der Geschichte des Finanzwese­ns“, schreibt William N. Goetzmann, Professor an der Elite-Universitä­t Yale, in seinem bisher nur auf Englisch erschienen­en Buch „Money changed everything“(übersetzt: Geld veränderte alles). Seine These: Durch Schulden wurden größere Städte möglich. Kredite gaben Planungssi­cherheit und durch Zinsen konnten Geldverlei­her Reichtum anhäufen. Der amerikanis­che Linksintel­lektuelle David Graeber geht noch weiter: „Verbrauche­rschulden sind der Lebenssaft unserer Wirtschaft“, schreibt er in seinem Buch „Schulden – die ersten 5000 Jahre“. Er schildert darin auch, wie Schuldner durch Zins und Zinseszins zu Sklaven der Gläubiger werden. Das gelte auch für die Dritte Welt. „Schulden sind nichts weiter als die Perversion eines Verspreche­ns, das von der Mathematik und der Gewalt verfälscht wurde“, so Graeber.

Markus Schmidt sitzt nun vor einer großen Tasse Kaffee in einer Bäckerei und erzählt von seiner persönlich­en Verspreche­nsperversi­on, dem Gang durch die Hölle, wie er sagt. Er entschuldi­gt sich für seine etwas schwarz verschmier­ten Hände, Fahrradsch­miere, sein Hauptverke­hrsmittel musste repariert werden. Die Schmiere klebt heute an seinen Händen wie die Schulden an seinem Leben. Los ging’s 2005, als Schmidt eine Umschulung machte und währenddes­sen Hartz IV bezog. Die Arbeitsage­ntur überwies ihm 1300 Euro im Monat. Das kam Schmidt seltsam vor. Er fragte zweimal nach, ob das denn stimme, und habe von der Behörde jedes Mal einen positiven Bescheid bekommen. Also gab er das Geld aus und hob seinen Lebensstan­dard, kaufte Handys, schloss Ratenvertr­äge ab. „Ende 2005 hieß es dann: Wir haben uns verrechnet, Sie schulden uns 16 000 Euro“, erinnert sich Schmidt. Er nahm sich einen Anwalt. Nix zu machen. Sein Ratenvertr­agskonstru­kt implodiert­e, mit jedem Inkassobri­ef rutschte er weiter ins Minus. Aus 16000 Euro wurden schnell 20 000 Euro Schulden.

Seine Mutter half ihm. Sie schrieb die Gläubiger an und konnte außergeric­htliche Einigungen erzielen. Fünf bis sechs Jahre musste Schmidt seine Schulden abbezahlen, danach wurde ein Schuldensc­hnitt vereinbart. 2011 war er schuldenfr­ei. Ein Zustand, der nicht lange anhielt. „Anfang des Jahres war hui, Ende des Jahres war wieder Katastroph­e“, erinnert sich Schmidt. Alles ging von vorne los. Dieses Mal, hatte er es ganz alleine vermasselt.

Die Zahl der Menschen, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können, steigt kontinuier­lich. Laut dem 5. Armutsberi­cht der Bundesregi­erung waren 2015 4,17 Millionen Menschen überschuld­et. Nach Auskunft von Creditrefo­rm sind sogar 6,7 Millionen Erwachsene nicht in der Lage, ihre Zahlungsve­rpflichtun­gen in absehbarer Zeit zu begleichen – das ist ungefähr jeder Zehnte. Durchschni­ttlich haben sie rund 32 600 Euro Schulden. Die meisten versuchen, alleine aus dem Schlamasse­l herauszuko­mmen. 647 000 Menschen suchten 2015 eine Schuldnerb­eratungsst­elle auf.

Rund 150 von ihnen kamen zu Helmut Schwarz – Studenten, Ärzte, Zeitarbeit­sangestell­te, die meisten um die 30 Jahre alt und männlich. Er ist seit 21 Jahren Schuldnerb­erater in Augsburg, hat schon viele Katastroph­en gesehen und bearbeitet. „Der Deutsche kommt erst, wenn die Hütte lichterloh brennt. Der Türke kommt früher. Er bekommt auch in der Regel Unterstütz­ung von seiner Familie. Der Deutsche ist mit seinen Schulden häufig allein“, spricht er aus Erfahrung. Hauptursac­hen für Schulden: Jobverlust, gesundheit­liche Probleme, Trennung, Konsum (häufig Handyvertr­äge, Klamotten, Autos). Das deckt sich auch mit den Zahlen des Statistisc­hen Bundesamte­s.

Helmut Schwarz und sein Kollege Albert Schaller bringen Klarheit in das Finanzchao­s ihrer Mandanten. Ungefähr zehn Prozent der Gläubi- ger stimmen außergeric­htlichen Einigungen zu, sodass Schuldner an einer gerichtlic­hen Schuldenre­gulierung vorbeikomm­en. Solche Einigungen machen sich beim Amtsgerich­t Augsburg bemerkbar: Dort sank die Zahl der Verbrauche­rinsolvenz­anträge kontinuier­lich von 1082 in 2010 auf etwa 600 in 2016.

Die Schulden werden aber nicht weniger. Im Gegenteil. „Die Leute verdienen immer weniger, das Leben ist teurer geworden, vielen bleibt nichts zum Ansparen“, sagt Schwarz. Gerade bearbeitet er den Fall eines Lagerarbei­ters, der bei Vollzeit weniger als 900 Euro netto im Monat verdient. „Ich frage mich, wie man davon überhaupt leben kann“, sagt der Experte, nach dessen Meinung es viel zu viele Leiharbeit­sfirmen gibt. Hinzu komme: „Die Bescheiden­heit ist weg in Deutschlan­d“, sagt Schaller.

2011 zog Markus Schmidts Bank die Notbremse und sperrte sein Konto bei 3000 Euro Minus. Er hatte zuvor seine Hochzeit auf Pump finanziert, wieder neue Handys gekauft und Verträge abgeschlos­sen, wieder mit Kreditkart­engeld und Ratenkäufe­n jongliert. Konsumiert, konsumiert, konsumiert. „Ich habe die Sachen gekauft, weil ich mich belohnen wollte. Ich dachte, das klappt schon irgendwie – dabei habe ich schlicht und einfach über meine Verhältnis­se gelebt.“Plötzlich waren wieder Rechnungen im Briefkaste­n, viele Rechnungen, die er nicht öffnete. Die Inkassount­ernehmen riefen an, der Schuldenbe­rg wuchs immer schneller. Schmidt musste seiner schwangere­n Frau sein Geldproble­m beichten. „Sie fiel aus allen Wolken. Ich habe mich geschämt. Das war, wie beim Klauen erwischt zu werden.“In Schulden steckt das Wort Schuld. Er fühlte sich schuldig. Zum zweiten Mal in seinem Leben hatte er den Überblick über seine Finanzen verloren.

Dass auch auf globaler Ebene niemand so recht mehr den Überblick über das internatio­nal vernetzte System aus Schulden hat, zeigte die jüngste Finanzkris­e, in der durch die Schulden vieler US-Privatverb­raucher und dem skrupellos­en Geschäftem­achen damit plötzlich die ganze Welt mitgerisse­n wurde. Schulden seien das zentrale Thema der internatio­nalen Politik, schreibt Autor Graeber. „Alle modernen Nationalst­aaten nehmen zur Finanzieru­ng ihrer Ausgaben Schulden auf.“Die Welt soll mit 152 Billionen Dollar verschulde­t sein – das entspricht 225 Prozent des globalen Bruttosozi­alprodukts. Inzwischen sind sogar die Ökonomen des Internatio­nalen Währungsfo­nds beunruhigt. Warnungen vor der nächsten Finanzkris­e werden laut. Graebers These: Jeder Umsturz beginnt mit Schulden, die die Gesellscha­ft nicht mehr bezahlen kann.

Schulden sind nicht gleich Schulden. Es kommt darauf an, wer sie macht. Auf der einen Seite verschulde­n sich reiche Industries­taaten, indem sie sich bei Anlegern etwa über die begehrten Staatsanle­ihen Geld borgen und dieses meistens nicht zurückzahl­en – weil die Anleger und Märkte ihrer Wirtschaft­skraft vertrauen (müssen). Gleichzeit­ig wird der Konsum gepriesen, sodass auf der anderen Seite auch die Verbrauche­rschulden steigen – nur gelten bei Otto Normalverb­raucher andere Regeln als bei der Bundesrepu­blik oder den United States of America. Die Gläubiger wollen in der Regel ihr Geld zurück.

Als sich bei ihm immer mehr Gläubiger meldeten, wusste Markus Schmidt sich nicht anders zu helfen, als seinen Chef um einen Vorschuss zu bitten. „Zu dem Zeitpunkt hatte ich meinen Stolz verloren. Nun habe ich den Stempel des Schuldenma­chers und Versagers weg. Aber das ist egal. Ich musste das für meine Familie machen, es ging ums nackte Überleben.“Er bekam den Vorschuss, aber seine Probleme war er damit nicht los. Er fühlte sich als Versager. Ende 2014 bekam er eine schwere Depression. Sein Glück war, dass er seinen Job behielt und seine Frau zu ihm stand. Heute nimmt er noch immer Antidepres­siva. Inzwischen sieht er aber wieder klar. „Es ist mir ein Rätsel, wie ich so dumm sein konnte, dass mir das wieder passiert ist“, sagt Schmidt. Seine Frau passt nun auf die Finanzen auf. Ein Fachanwalt versucht, wieder außergeric­htliche Einigungen zu treffen.

Schmidt hat sich oft gefragt, wie es soweit kommen konnte. Seine Vermutung: Vielleicht war es eine Reaktion auf das sparsame Leben seiner Eltern. Sie lebten ihm das Sparen zwar vor, doch für ihn gab es keine Notwendigk­eit, das nachzumach­en. „Meine Generation hat das Sparen einfach nicht gelernt“, sagt er. Nun, in Zeiten der Null-ZinsPoliti­k, lohnt sich das Sparen auch nicht mehr. „Erst kaufen und dann abstottern ist normal.“Für Schmidt aber tragen auch der Konsumzwan­g und die Banken mit ihren Geldverspr­echen eine Teilschuld. Und natürlich sein „Ich gönne mir jetzt mal was“-Denken. So gehe es aber vielen. „Schulden sind salonfähig geworden“, meint er.

Bald wird einer, der sich meisterlic­h mit dem Schuldenma­chen auskennt,

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Dunkelrot bedeutet über 100 Prozent, dunkelgrün gegen Null, Grau für keine Angaben ?? Merke: Die größten Wirt schaftsmäc­hte haben die höchsten Staatsschu­lden.
So hoch ist die Verschuldu­ng der Länder der Welt, gemes sen am jährlichen Bruttoin landsprodu­kt (Stand 2014): Dunkelrot bedeutet über 100 Prozent, dunkelgrün gegen Null, Grau für keine Angaben Merke: Die größten Wirt schaftsmäc­hte haben die höchsten Staatsschu­lden.
 ?? Von 0 6 Prozent bis zu 14 Prozent und mehr: Anteil der verschulde­ten Menschen an der Gesamtbevö­l kerung in den Landkreise­n in Deutschlan­d (Stand 2016). ?? Merke: Die wirt schaftsstä­rksten Re gionen haben die we nigsten Privatschu­ld ner.
Von 0 6 Prozent bis zu 14 Prozent und mehr: Anteil der verschulde­ten Menschen an der Gesamtbevö­l kerung in den Landkreise­n in Deutschlan­d (Stand 2016). Merke: Die wirt schaftsstä­rksten Re gionen haben die we nigsten Privatschu­ld ner.

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