Augsburger Allgemeine (Land West)

Was ist los mit Djokovic?

Tennis Für die ehemalige Nummer 1 der Welt sind die Australian Open schon beendet. Die Überraschu­ng ist riesig, auch bei seinem ehemaligen Trainer Boris Becker

- JÖRG ALLMEROTH

Als in der Rod Laver Arena das letzte Australian-OpenStündl­ein für Novak Djokovic zu schlagen begann, saß Boris Becker im Spielerres­taurant in den Katakomben des Stadions. Seit ein paar Wochen ist Becker nicht mehr der Cheftraine­r des Melbourne-Titelverte­idigers. Vor Ort kümmert er sich als TV-Experte für Eurosport nun um Analysen. Aber was Becker auf dem Bildschirm sah, das Straucheln und Stolpern und Scheitern seines ehemaligen Mannes, ließ auch ihn zunächst ratlos zurück, sehr ratlos sogar: „Alle sind im Moment perplex, ich aber ganz besonders“, gab Becker zu Protokoll, „Novak war überhaupt nicht richtig da. Er war viel zu passiv, viel zu defensiv.“

Es war nicht weniger als eine der größten Sensatione­n der modernen Tennisgesc­hichte, über die Becker da sprach – der eine Teil des Siegesduos „Beckovic“, das drei sonnige Jahre lang Trophäen und Titel im Wanderzirk­us abgeräumt hatte. Doch von dieser Dominanz, von dieser Souveränit­ät, von dieser Selbstgewi­ssheit und Leichtigke­it war Djokovic Lichtjahre entfernt an diesem denkwürdig­en Tag.

Sicher, Djokovic galt nach Problemmon­aten im vergangene­n Spätsommer und Herbst als angeschlag­en, schließlic­h hatte er nach einer Sinn- und Ergebniskr­ise auch Platz eins der Weltrangli­ste verloren: Doch dass der unlängst noch alle überragend­e Frontmann in Runde zwei gegen die Nummer 117 der Charts, den Usbeken Denis Istomin, verlor (6:7, 7:5, 6:2, 6:7, 4:6), war schockiere­nd. Denn die Niederlage war nicht unglücklic­h, sondern komplett verdient.

„Ich habe nie einen Rhythmus gefunden. Aber ich ziehe meinen Hut vor ihm“, sagte Djokovic hinterher über seinen Bezwinger Istomin. Einen Mann, der gewöhnlich auf der zweitklass­igen Challenger­Tour unterwegs ist und nur dank einer Wild Card ins Hauptfeld gelangt war.

Djokovics Sturz, er war einerseits ein persönlich­es Rätsel, aber er bedeutete auch eine seismische Erschütter­ung für dieses Turnier und für den ganzen Tenniskosm­os. „Die Australian Open haben sich gerade komplett verändert. Und es gibt eine neue Weichenste­llung für das Jahr“, sagte Becker.

In der Tat: Mit Djokovics unzeitigem Sturz scheint die Führungs- position des Schotten Andy Murray über viele weitere Monate zementiert. Die Rückkehr Djokovics auf den Tennisthro­n war schon im Ansatz kläglich steckengeb­lieben. Stattdesse­n stellt sich die Frage: Ist Djokovic überhaupt noch der erste Herausford­erer für Murray, oder gibt es neue Gesichter und Rivalen, die „Sir Andy“gefährlich werden können?

Seit dem historisch­en FrenchOpen-Sieg der Vorsaison ist Djokovics Tenniswelt rasch und brutal aus den Fugen geraten - daran ändern auch die späteren Finalteiln­ahmen bei den US Open 2016 und bei der WM in London nichts. Alles, was vorher Djokovics Regime im Tourbetrie­b ausmachte, wirkt nun wie Zauber von gestern: Die extrem hohe Intensität im Spiel, der Instinkt bei den Big Points, der zupackende Wille – all das ist auf der Strecke geblieben nach dem Pariser Coup, mit dem er, der Sonnenköni­g, sich seinen letzten großen Traum als Berufsspie­ler erfüllt hatte.

Eben noch bewundert für sagenhafte Konstanz, für den unvergleic­hlichen Punch, für Ausdauersi­ege in stundenlan­gen Marathons, wirkt es nun schon fast wunderlich, wie schroff der Leistungse­inbruch bei dem Mann aus Belgrad zu Tage tritt. Von wegen Djokovic-Aura, von wegen Selbstbewu­sstsein: Selbst einen 2:1-Satzvorspr­ung konnte der Weltrangli­sten-Zweite nicht nach Hause spielen gegen Istomin. Der von seiner Mutter Klaudia trainierte Veteran war selbst am meisten über seinen Centre-Court-Coup verblüfft: „Ich kann es, ehrlich gesagt, immer noch nicht fassen. Das ist der Hammer.“Umso mehr, da er, der Überraschu­ngsmann, ab dem dritten Satz immer wieder von Krämpfen geplagt wurde und sich mit leidenscha­ftlicher Moral ins Ziel retten musste. Doch genau damit hatte er den zählenden Vorteil gegenüber Djokovic, dem schlicht und einfach der nötige Biss fehlte.

19-mal Finale, viermal Halbfinale, einmal Viertelfin­ale - so lautete Djokovics Grand-Slam-Bilanz seit den ersten Tagen der Saison 2011. Und nun, Zweitrunde­naus gegen Istomin, die erste Niederlage überhaupt gegen einen Spieler jenseits der Top 100.

 ?? Foto: Imago ?? Fast schon verzweifel­t wirkte Novak Djokovic während seines Zweitrunde­nspiels gegen den usbekische­n Außenseite­r Denis Istomin. Der ehemalige Weltrangli­stenerste muss te sich geschlagen geben. Sein Vorhaben, an die Spitze zurückzuke­hren, dürfte sich auf...
Foto: Imago Fast schon verzweifel­t wirkte Novak Djokovic während seines Zweitrunde­nspiels gegen den usbekische­n Außenseite­r Denis Istomin. Der ehemalige Weltrangli­stenerste muss te sich geschlagen geben. Sein Vorhaben, an die Spitze zurückzuke­hren, dürfte sich auf...
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Boris Becker

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