Augsburger Allgemeine (Land West)

Handschuh verloren

Wenige Paare werden so häufig getrennt wie diese. Jetzt im Winter sind die Fundstücke Teil des Ortsbilds. Eine Galerie / Von Michael Schreiner (Text und Fotos)

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Was fängt man mit einem einzelnen Handschuh an? Nichts ist so überflüssi­g wie der rechte oder linke, der noch in der Manteltasc­he ist, wenn das Gegenüber fehlt. Irgendwo und irgendwann verloren.

Anders als Schirme, die in Geschäften und Ämtern, Büros und Museen stehen- und liegengela­ssen werden, fallen Handschuhe auf geheimnisv­olle Weise unterwegs heraus, draußen. Sie segeln aus Taschen und Kinderwage­n, gleiten aus frosttaube­n Händen, schlüpfen lautlos aus Jacken. Liegen dann herum wie Geisterhän­de, spreizen die leeren Finger, krümmen sich im Rinnstein, verkrampfe­n sich in Nässe und Kälte, sind gezeichnet von Autoreifen, die über sie hinwegroll­en, und rufen: Heb mich auf, finde mich! Der verlorene Handschuh ist ein Klassiker im Straßenbil­d der Wintermona­te. Und er ist ein Rätsel. Wieso fast immer nur einer und nicht beide? Aber auch das gibt es, sehr selten: das auch in der Verlorenhe­it noch unzertrenn­liche Paar.

Der Handschuh als Fundstück erzählt viel über uns. Denn während sich niemand um ein verlorenes Taschentuc­h oder eine verlorene Haarklamme­r schert, nehmen sich die Finder des herrenlose­n Fingerhand­schuhs und Fäustlings sehr oft umsichtig und geradezu liebevoll an. Nicht, dass sie ihn mitnähmen – was soll man auch mit einem einzelnen Handschuh, der so nutzlos ist wie ein Karton ohne Boden oder ein Schuh ohne Sohle. Nein: Handschuhe werden drapiert, auf dass sie besser wiedergefu­nden werden können.

Es gibt dort die schönsten Strategien. Sie werden wie ein Winkzeiche­n auf Zaunpfoste­n gepflanzt oder den Spitzen von Sträuchern und Baumgeäst aufgesetzt. Man legt sie auf Fensterbän­ke, Mülltonnen und Stromkäste­n, präsentier­t sie dem suchenden Auge auf Pollern oder auf Mauern. Handschuhe werden gehisst wie bunte Flaggen und auf Augenhöhe in den Weg gestellt wie Handzeiche­n. Ein verlorener Handschuh ist immer ein Verweis auf einen Menschen und rührt an. Ein Kinderhand­schuh, so ein händchengr­oßer Farbfleck, gleich doppelt. Trotz all der Mühe, die sich Finder damit machen: Man hat als Beobachter das Gefühl, dass nur die wenigsten verlorenen Handschuhe glücklich wiedergefu­nden und in der Obhut des Besitzers wieder zu einem Paar vereint werden.

Alle anderen liegen da und erzählen davon, dass wir nicht allein sind.

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