Augsburger Allgemeine (Land West)
Eine ganz normale Flucht
Kurz-Dokumentation mit Oscar-Chancen
Eine Frau sitzt auf der Rückbank eines Autos. Sie trägt ein Kopftuch und blickt aus dem Fenster, um sie herum drei Kinder. Aber kein Vater. Monatelang hatten sie auf diese Fahrt gewartet. Es ist die letzte Etappe auf ihrer Reise aus Syrien nach Deutschland.
Die Familie fährt durch die beschauliche Kleinstadt Goslar in Niedersachsen. Die Frau blickt auf die vielen Fachwerkhäuser mit ihren Holzbalken und weißen Fassaden. Schließlich sagt sie leise: „Kein einziges Haus hier ist zerbombt.“Das ist nur einer von vielen Momenten, die den Zuschauer von „Watani: My Homeland“sprachlos zurücklassen. Zuvor ist in der 40-minütigen Dokumentation schon das Leben von Hala und ihrer Familie in Aleppo zu sehen: Wie die fünfjährige Tochter Sara auf dem Balkon steht und Bomben nachlauscht. Wie Halas Mann Abu Ali darüber nachdenkt, ob sein Kampf für die syrischen Rebellen wert ist, die Kinder dem Krieg auszusetzen. Wie Mutter Hala ihn grübelnd anschaut.
Der eindrucksvolle Film von Marcel Mettelsiefen kann morgen in den erlesensten Kandidatenkreis aufgenommen werden, den die Filmwelt kennt: Dann werden in Hollywood die Oscar-Nominierungen bekannt gegeben und es entscheidet sich, ob „Watani“in der Sparte „Kurz-Dokumentarfilm“den Sprung von der Shortlist mit zehn Filmen unter die besten fünf schafft – parallel womöglich zum deutschen „Toni Erdmann“in der Kategorie ausländischer Film.
Über drei Jahre hat Mettelsiefen in die 40 Minuten gepackt. „Ich dachte, es braucht eine Gegenerzählung“, sagt er über seine Gründe. „Wenn wir immer nur über Terror sprechen, dann füttern wir dieses Monster. Je mehr wir Normalität zeigen, desto mehr sensibilisieren wir die Menschen dafür, dass wir helfen müssen.“Der Regisseur und Autor wurde 1978 als Sohn eines deutschen Vaters und einer spanischen Mutter geboren. Seine Dokumentationen „Aleppo – die geteilte Stadt“, „Die Kinder von Aleppo“und „Das Schicksal der Kinder von Aleppo – Neue Heimat Deutschland“haben bereits viele Preise gewonnen.
„Watani“erzeugt zusätzliche Kraft dadurch, dass die Familie bis auf ihre Hintergrundgeschichte in vielerlei Hinsicht normal ist – zum Beispiel, wenn in Deutschland die ältere Tochter Helen bei Teenagerflirts in der Eishalle zu sehen ist. Auch die gezeigte Reise der Familie ist eher unspektakulär. Sie fliehen nicht über die Balkanroute, sondern kommen mit dem Flugzeug aus der Türkei. Trotzdem liegt in den Blicken Halas in Deutschland Schwermut, die Entwurzelung macht ihr zu schaffen. „Sie mussten aus einem Land fliehen, das sie niemals verlassen wollten“, sagt der deutsch-spanische Regisseur darüber. Ein Beweggrund für Hala ist immer klar: die Sicherheit der Kinder.
Mettelsiefen hatte Glück mit seinen Protagonisten: Die Familie ließ ihn am Alltag teilhaben und auch bei sich übernachten – für Nicht-Muslime ein großer Vertrauensbeweis. Für die Dreharbeiten war der Regisseur mehr als zwanzig Mal in Syrien, häufig inkognito. Auch hinter der Kamera hat er Tragisches erlebt, zuletzt starb sein „Fixer“, einer der Helfer vor Ort für ausländische Journalisten, der ihm bei vielen Reisen half. Der Film selbst ist vom Verschwinden des Vaters geprägt. Er ist nur in wenigen Momenten aus dem Jahr 2012 zu Beginn des Films zu sehen. Die Terrormiliz IS hat ihn entführt, bis heute ist sein Schicksal unklar.