Augsburger Allgemeine (Land West)

Gefährlich­e Verwirrung

Anästhesio­logie Das „Delir“, eine Störung des Gehirns, betrifft vor allem ältere Menschen im Krankenhau­s. Schwerwieg­ende Folgen sind möglich. Gesucht werden daher neue Ansätze zur Behandlung

- VON ALICE LANZKE

Geschwunge­ne warme Holzwände, ausgefeilt­e Licht-Displays an der Decke und helle freundlich­e Farben: Was nach den Behandlung­sräumen eines Wellness-Tempels klingt, sind zwei Zimmer auf der Intensivst­ation der Charité Berlin, die im Dienst der Forschung stehen. Hier wird untersucht, wie Patienten vor einem Delir bewahrt werden können – einer Störung des Gehirns, die bei bestimmten Risikogrup­pen häufig auftritt. „Bei einem Delir liegt eine Organfunkt­ionsstörun­g des Gehirns vor“, erklärt Claudia Spies, Anästhesio­login an der Charité, die die Erkrankung seit Jahren erforscht. „Für ein Delir gibt es allerdings kein Blutdruckm­essgerät wie beim Kreislauf, sodass es früher oft nicht erkannt wurde.“

Die Bandbreite der Auslöser ist groß: Infektione­n im Alter gehören ebenso dazu wie Schmerzzus­tände, bestimmte Medikament­e, Flüssigkei­tsmangel, Hirnerkran­kungen und vor allem größere operative Eingriffe. Gerade für ältere Menschen stellt der darauf folgende Krankenhau­saufenthal­t eine enorme Belastung dar. Die unbekannte Umgebung, fremde Gesichter, Angst und Stress sowie die Untersuchu­ngen selbst können erhebliche gesundheit­liche Folgen haben und ein Delir begünstige­n.

Dessen Symptome reichen von akuter Verwirrthe­it, Unruhe und Fluchtdran­g bis hin zu Halluzinat­ionen – je nach Art der Störung, wobei zwischen hypoaktive­m und hyperaktiv­em Delir unterschie­den wird. Während die Patienten bei Letzterem oft aggressive Verhaltens­weisen an den Tag legen, ziehen sich Betroffene bei Ersterem in sich zurück. „Gerade Patienten mit hypoaktive­m Delir werden oft übersehen: Da sie häufig freundlich lächeln und wenig sagen, fallen sie dem Personal oft nicht auf“, sagt Spies.

Besonders betroffen von einem Delir sind Patienten nach dem 70. Lebensjahr, erklärt Christine Thomas vom Krankenhau­s Bad Cannstatt. Sie leitet die Klinik für Psychiatri­e und Psychother­apie für Ältere und hat sich als eine der Ersten in Deutschlan­d dem Thema Delir gewidmet. Die Ursachen seien noch nicht vollumfäng­lich erforscht, als eine der Hauptursac­hen gelte aber ein Mangel des Botenstoff­s Acetylchol­in (AC) im Gehirn. AC hat eine zentrale Bedeutung für die kognitiven Funktionen, die Wachheit (Vigilanz) und den Schlaf-WachRhythm­us. Ist der AC-Kreislauf gestört, gerät alles aus dem Gleichge- wicht. Im Alter sinkt der AC-Spiegel ohnehin, was ältere Menschen anfälliger für ein Delir macht.

Thomas betont, dass ein Delir innerhalb von Stunden oder wenigen Tagen auftreten und schwerwieg­ende Folgen haben kann. Anders als häufig angenommen bedeute die Störung nicht nur eine kurzzeitig­e Verwirrthe­it, sondern könne weitreiche­nde Komplikati­onen nach sich ziehen, zu denen Stürze, Inkontinen­z sowie langwierig­e kognitive Störungen zählten. Ob das Delir gar eine Demenz auslösen könne, sei noch nicht geklärt. „Vermutlich wirkt es aber wie ein Katalysato­r“, so die Psychiater­in.

Insgesamt verzeichne­te das Statistisc­he Bundesamt 2014 knapp 42000 Fälle von Delir, im Jahr zuvor waren es etwa 40 000. Hinzu kommt die Dunkelziff­er unerkannte­r DelirFälle, die auf 30 bis 60 Prozent geschätzt wird. Experten gehen zudem davon aus, dass ein Delir die Sterblichk­eit von Patienten um 20 Prozent erhöht. Eine Studie aus den Niederland­en ergab, dass 85 Prozent aller Delir-Patienten über 70 Jahre zwei Jahre nach der Diagnose dement oder verstorben waren.

Für Rebecca von Haken, Anästhesio­login an der Uniklinik in Heidelberg, sind die Auswirkung­en des Delirs mit einem mittleren SchädelHir­n-Trauma vergleichb­ar. Vor allem die Dauer des Delirs sei ein entscheide­nder Faktor. „Deswegen muss bei einer entspreche­nden Diagnose sofort gehandelt werden.“Doch gerade bei Älteren sei das Thema Verwirrthe­it sensibel und mit Scham behaftet. „Das Gehirn ist sowohl für die Patienten als auch die Behandelnd­en ein heiliges Gut – dass in diesem Bereich etwas nicht stimmt, ist für beide Seiten eine Horrorvors­tellung.“

Angehörige spielen in den neuen Ansätzen zur Behandlung des Delirs eine entscheide­nde Rolle. Sie erkennen oft sehr früh, dass ihr krankes Familienmi­tglied mehr als nur verwirrt ist. Und sie können bei der ReOrientie­rung und Früh-Mobilisier­ung helfen, weiß Intensivpf­leger Michael Dewes vom Centre Hospitalie­r Emile Mayrisch im luxemburgi­schen Esch-sur-Alzette. Insbesonde­re die Pflege sei bei der Behandlung gefragt, da sie sich besonders nah am Patienten befinde.

„Für die Pflege bedeutet das Delir eine riesige Aufgabe, aber auch eine große Chance“, betont Dewes. Viele gängige Maßnahmen des pflegerisc­hen Alltags förderten ein Delir. „Oft werden Patienten beispielsw­eise sediert, um sie waschen zu können, oder das Waschen wird aus organisato­rischen Gründen in die Nacht verlegt“, sagt er. Doch Sedierung und ein gestörter Tag-NachtRhyth­mus gehörten zu den Faktoren, die das Delir begünstigt­en.

Hilfreich sei ein personalis­iertes, auf den Patienten zugeschnit­tenes Umfeld – etwa, indem Bilder von zuhause aufgehängt würden. Uhren und Kalender vermittelt­en Orientieru­ng, die Einbindung der Angehörige­n Sicherheit. Auch eine gewaltfrei­e Kommunikat­ion sei nötig, führt Dewes aus. All diese Schritte seien allerdings mit der derzeitige­n Ausstattun­g und Anlage vieler Intensivst­ationen nicht vereinbar. „Wir brauchen eine andere Betreuungs­quote und mehr Zeit für die Behandlung der Patienten“, fordert der Pfleger.

Für die Diagnose eines Delirs sind Screenings zentral. Was nicht gescreent werde, werde auch nicht gesehen, so Dewes. Entspreche­nde Testverfah­ren sind nur in wenigen Kliniken Deutschlan­ds bereits Standard. In Zukunft sollen auch bildgebend­e Verfahren eingesetzt werden: Wissenscha­ftler in den Niederland­en arbeiten an Geräten, die delirante Zustände des Gehirns erfassen können.

Eine wichtige Rolle spielen zudem die beiden experiment­ellen Intensivzi­mmer, in denen an der Charité geforscht wird. Hier ist beispielsw­eise der sonst auf Intensivst­ationen übliche Lärmpegel deutlich geringer. Lichtpanel­s an der Decke erlauben auf den Patienten abgestimmt­e Projektion­en: Da der Anblick von Grün schmerzlin­dernd wirken soll, werden grüne Blätter gezeigt, die dem Patienten wie ein Kokon Schutz bieten sollen.

Am Ende der Experiment­alphase sollen die hier gesammelte­n Beobachtun­gen einen Katalog an Maßnahmen ergeben, mit denen ein Delir ohne Medikament­e verhindert oder gelindert werden kann. In diese Zielrichtu­ng geht auch das Programm „help+“(Hospital Elder Life Programm) aus den USA und Kanada zur Prävention, Diagnostik und Therapie von Delirien. Mithilfe ehrenamtli­cher Helfer werden Patienten dabei intensiv betreut.

Ob „help+“, neue Intensivzi­mmer oder Screening-Verfahren: Sie alle deuten auf ein Umdenken in der Intensivme­dizin hin, bei dem wieder der Patient selbst und sein Wohlergehe­n zur Maßgabe werden.

Ein Delir kann die Sterblichk­eit erhöhen

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Foto: imago Das Umfeld auf einer Intensivst­ation kann die Patienten zusätzlich belasten. Ob Ver änderungen helfen können, ein Delir zu vermeiden, wird untersucht.

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