Augsburger Allgemeine (Land West)

Wachsam bleiben

Infektiolo­gie Bei den Masern gibt es Fachleuten zufolge trotz sinkender Erkrankung­szahlen keinen Grund zum Aufatmen

- VON GISELA GROSS

Ein Blick auf die Zahlen allein könnte zuversicht­lich stimmen: Nach fast 2500 Masernfäll­en bundesweit im Jahr 2015 erkrankten nach bislang vorliegend­en Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) im vergangene­n Jahr nur etwas mehr als 300 Menschen an der hochanstec­kenden Krankheit. Fachleute jedoch sehen beim Thema Masern in Deutschlan­d wenig Grund zum Aufatmen. Und das nicht nur, weil die tatsächlic­hen Zahlen höher liegen: Nicht jeder Patient geht zum Arzt und auch nicht jede Behandlung wird gemeldet.

„Schlimm, dass Deutschlan­d inzwischen in Europa das Schlusslic­ht der Masernelim­ination darstellt“, erklärt RKI-Präsident Lothar Wieler mit Blick auf die nach neuen Erkenntnis­sen seines Hauses oft verspätete Masernimpf­ung bei Kindern. Nach Hochrechnu­ngen waren bundesweit 150 000 Kinder des Jahrgangs 2013 mit 24 Monaten nicht vollständi­g gegen Masern geimpft. Hinzu kamen 28000 Kinder ganz ohne Masern-Impfung. Ballungsrä­ume wie Berlin, Dresden, Hamburg, Köln, Leipzig und München sehen die Experten als „Problemreg­ionen“.

Hermann Josef Kahl, Sprecher des Bundesverb­andes der Kinderund Jugendärzt­e (BVKJ), würdigt aber einen in den RKI-Zahlen ersichtlic­hen Aufwärtstr­end bei der zweiten Masern-Impfung: „Wir haben den Eindruck, dass die Misere, wie sie bisher bestanden hat, doch langsam ein bisschen abgebaut wird“, sagt er. Die Zahl der Kinder, die nach dem zweiten Lebensjahr nur einmal geimpft sind, scheine abzunehmen – noch müsse man aber die weitere Entwicklun­g abwarten. „Wachsam bleiben sollte man auf jeden Fall“, betont Kahl.

Noch immer viel zu viele Masernfäll­e beklagt Dirk Werber, Leiter der Arbeitsgru­ppe Infektions­schutz beim Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso). Erst kürzlich wies er darauf hin, dass es für eine Eliminieru­ng der Masern gemäß dem Ziel der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) weniger als einen Fall pro eine Million Einwohner hätte geben dürfen – das wären maximal rund 80 in Deutschlan­d. So viele Masernpati­enten hatte allein Berlin 2016, weiter Deutschlan­ds Masern-Hauptstadt. Auch vielen jungen Erwachsene­n fehlt dort der Impfschutz.

Die Anfälligke­it zeigte die Ankunft eines erkrankten Reisenden im Spätsommer: Er verließ sein Hotel nicht, bevor er ins Krankenhau­s kam, wie Dirk Werber schilderte. Dennoch steckten sich zwei Angestellt­e des Hotels an und trugen das Virus in der Stadt weiter. Da es sich um einen seltenen Virenstamm handelte, sei nachweisba­r, dass in der Folge auch Menschen in Brandenbur­g, Sachsen, Niedersach­sen und Baden-Württember­g an dem eingeschle­ppten Erreger erkrankten, so Werber. Neben Berlinern waren auch relativ viele Thüringer und Brandenbur­ger von Masernerkr­ankungen betroffen.

Andere Länder sind weiter: Der gesamte amerikanis­che Kontinent wurde Ende September als frei von Masern erklärt. Dort wurde seit 2002 nur noch von eingeschle­ppten Fällen berichtet. In den USA sind Masernimpf­ungen für Kinder vorgeschri­eben, sie müssen in Schule und Kindergart­en vorgewiese­n werden. Masern gehören zu den ansteckend­sten Krankheite­n überhaupt. Man kann sich über Tröpfchen beim Sprechen, Husten und Niesen anstecken oder bei Kontakt zum Beispiel mit dem Schleim eines Erkrankten.

Eine Impfpflich­t in Deutschlan­d fordert der Ärzteverba­nd BVKJ seit Jahren. Die Mediziner halten die nach dem großen Masernausb­ruch 2015 eingeführt­e verpflicht­ende Impfberatu­ng nicht für ausreichen­d. Die Beratung bekommen Eltern üblicherwe­ise bei der normalen Vorsorgeun­tersuchung, schildert Kahl: „Sie sind relativ gut vorinformi­ert und wollen die Impfung in der Regel auch haben.“

Ausführlic­here Gespräche gebe es mit Eltern, die generell Angst vorm Impfen haben. „Da kommt man dann manchmal nicht durch“, so Kahl. Impfgegner dagegen kämen gar nicht erst in Praxen. Zudem hat Kahl die Erfahrung gemacht, dass Impfungen des Öfteren erst im Jugendalte­r nachgeholt werden, wenn Schüler zum Beispiel in die USA gehen wollen.

Masern sind vor allem wegen der sehr schweren Folgeerkra­nkungen gefürchtet. Beispielsw­eise kann es zur chronische­n und tödlichen Masern-Gehirnentz­ündung SSPE (Subakute sklerosier­ende Panenzepha­litis) kommen. Sie ist nach neueren Untersuchu­ngen häufiger als bislang angenommen.

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Foto: Bernhard Weizenegge­r Im Kampf gegen Masern wird von Ärzten auch eine Impfpflich­t gefordert.

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