Augsburger Allgemeine (Land West)
Tausend Köstlichkeiten
China Hongkong gilt als kulinarische Hauptstadt Asiens. Zum Neujahrsfest kommen allerlei Spezialitäten auf den Tisch. Und im Arbeiterviertel Sham Shui Po lernt man das Staunen /
Der alte Chinese sitzt auf einem dreibeinigen Holzschemel und lächelt ein zahnloses Lächeln. Er deutet auf das kleine Tellerchen mit den lilafarbenen Blütenornamenten am Rand, das vor ihm auf einem weißen Plastiktischchen steht. „Eat!“, ruft er uns zu. Fünf kleine, weiße Reisrollen liegen auf dem Teller. Sie sind so dünn, dass man beinahe durch sie hindurch sehen kann. Der alte Mann mit dem lichten, von der Hongkonger Schwüle durchnässten Haar, das in der muffigen Klimaanlagenluft sanft weht, gießt rote süß-saure Chili-Soße auf die Röllchen, die bisher nur in brauner Erdnuss-Brühe badeten, und kippt eine Handvoll Sesamkörner obendrauf. Wir sind die einzigen Europäer in dem kleinen Lokal Hop Yick Tai mitten im Hongkonger Viertel Sham Shui Po. Die Tische stehen so eng beieinander, dass man kaum von seinem Stuhl aufstehen kann, um wieder nach draußen zu gehen, hinaus in die schwüle Hitze, die sich an diesem Tag wie ein schweres, nasses Handtuch auf die feuchte Haut legt. Irgendwo weit oben, jenseits des dichten Dunstes, muss die Sonne sein, die Hongkong an diesem Tag wie einen gigantischen gelnest, mit dem man seine Suppe würzen kann. Mantarochenkiemen sollen den Milchfluss nach der Schwangerschaft anregen und getrocknete Seepferdchen sollen dem Körper mehr Energie geben. Auf die Frage, ob denn alle Chinesen an diese Wirkungen glaubten, blickt die Touristenführerin ein wenig ratlos drein. Man müsse nicht daran glauben, sagt sie. Das seien Fakten.
Dann geht es aus dem kleinen Laden, in dem die Klimaanlage verzweifelt gegen die drückende Schwüle anbläst, wieder nach draußen. Ein Spaziergang durch das Viertel Sham Shui Po ist eine Reise in das Hongkong der kleinen Leute, das der einfachen Arbeiter, wo Entenfüße an dicken Metallhaken mitten auf dem Gehweg hängen, Fischabfälle in einer dreckigen Brühe entlang der Bordsteinkante treiben und sich Berge von Plastiktüten in schmuddeligen Hinterhöfen stapeln.
Es ist ein ärmlicher Kontrast zum schicken Hongkong Island mit seinen gläsernen Wolkenkratzern, seinen Luxushotels und Einkaufsmalls. Aber so verschieden diese Welten auch sein mögen, am chinesischen Neujahrsfest, das am 28. Januar beginnt und 15 Tage dauern wird, werden sie eins werden. Hier wie dort werden Fenster und Türen geöffnet, um das Glück hereinzubitten, werden sich Menschen kleine rote Umschläge zustecken und am Ende des Festes Laternen anzünden, damit die Geister ihren Weg nach Hause finden. Und natürlich geht es auch ums Essen: An jedem Tag des Festes kommen andere Spezialitäten auf den Tisch. Am fünften Tag etwa sind es gefüllte Teigtaschen, am 15. klebrige Reisbällchen mit einer süßen Füllung. Und nicht nur zum Neujahrsfest kommt etwas Besonderes auf den Tisch. Zum traditionellen Mondfest im Herbst, dem zweitwichtigsten chinesischen Feiertag, gib es Mondkuchen. Füllungen gibt es viele, salzige und süße. Oft aber befindet sich im Inneren des Kuchens ein Enteneidotter, der den Mond symbolisieren soll.
Knapp vier Stunden lang führt Yammy durch das Straßengewirr in Sham Shui Po. Beim letzten Stopp, einem kleinen, engen Nudel-Restaurant in der Fuk Wing Street, gibt es Bandnudeln mit roten GarnelenEiern und saurem Rettich. Dann geht es wieder nach draußen, hinaus auf die Straße, an der sich ein dreckiger Wohnblock gegen den nächsten presst. Die heiße, feuchte Nachmittagsluft fühlt sie beinahe wie Nieselregen an. Und irgendwo weit oben, jenseits des Dunstes, jenseits dieses gigantischen Kochtopfs, muss die Sonne sein.