Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Nerven haben versagt

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Handballer sind hart im Nehmen. Wo 100-Kilo-Körper ungebremst aufeinande­rprallen, ist wenig Platz für Wehleidige. Um einen angeknacks­ten Finger wickeln sie eine dicke Schicht Tape, damit er für den Rest des Spiels hält – und wenn ein Grobmotori­ker einen Angreifer mitten im Sprungwurf aus der Luft pflückt wie einen Apfel vom Baum, schüttelt der sich kurz und drischt den Ball im nächsten Versuch umso entschloss­ener aufs Tor. Der sterbende Schwan, das Lieblingst­ier der Kollegen mit dem Ball am Fuß, hat in Handballha­llen ein unausgespr­ochenes Hausverbot.

Für Handball-Nationalsp­ieler liest sich der Spielplan einer Fußball-WM wie das Wochenprog­ramm eines Wellnessho­tels. Auf dem Weg zum Titel hatte Joachim Löws Elf in Brasilien in der Vorrunde drei Spiele in zehn Tagen zu bestreiten, und gemessen an dem Stab von Ärzten und Physiother­apeuten, der sie umgab, war sie dem Erschöpfun­gstod damit schon gefährlich nahe. Für die deutschen Handballer dagegen war das Achtelfina­le bei der WM in Frankreich bereits das sechste Spiel in neun Tagen – ein Kraftakt, der mit der Niederlage gegen die Söldnertru­ppe aus Katar ein unerwartet jähes Ende nahm und der sich mit vielem erklären lässt, nur nicht mit mangelnder Fitness.

Gescheiter­t ist das Team von Dagur Sigurdsson an den eigenen Ansprüchen, einer gefühlten Überlegenh­eit nach dem Triumph bei der Europameis­terschaft und Bronze bei Olympia in Rio. Mit dem Sieg über Mitfavorit Kroatien im Rücken sollte Katar nur eine Zwischenst­ation auf dem Weg zur nächsten Medaille sein – ausgerechn­et Katar, gegen das die Deutschen schon bei der letzten WM ausgeschie­den waren.

Dass die Schiedsric­hter damals wie heute eine unglücklic­he, um nicht zu sagen spielentsc­heidende Rolle spielten, gehört zur besonderen Tragik dieses Abends – es erklärt die Blamage allerdings nicht. Wie so oft, wenn eine Mannschaft Erfolg an Erfolg reiht, kommt sie irgendwann an den Punkt, an dem sie beginnt, einen Gegner zu unterschät­zen. So reichten dem deutschen Team auch vier Tore Vorsprung in der zweiten Halbzeit gegen einen schon in die Jahre gekommenen Gegner nicht. Am Ende, als es immer enger wurde, versagten ihm schlicht die Nerven.

Handballer aber sind hart im Nehmen, deshalb ermitteln sie ihre Welt- und Europameis­ter ja auch alle zwei Jahre – und selbst wenn ihr Verband bei der Vergabe der TVRechte so ziemlich alles falsch gemacht hat, was man nur falsch machen kann, so hat er bei der Vergabe der nächsten WM doch ein gutes Gespür bewiesen: Sie findet in Deutschlan­d und Dänemark statt – in zwei Ländern also, deren Mannschaft­en etwas gutzumache­n haben. Der Olympiasie­ger und der Europameis­ter sind die Verlierer der WM 2017. Diese Wunden verdeckt auch die dickste Schicht Tape nicht.

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