Augsburger Allgemeine (Land West)
Neue Technik hilft beim Erinnern
Projekt Informatiker entwickeln ein nützliches Elektronikspielzeug. Es soll Autisten im Alltag unterstützen – und vielleicht auch demente Menschen
Martin, 16, vergisst zu essen und zu trinken, wenn ihm andere Dinge wichtiger sind. Ähnlich ist es mit dem Zähneputzen. Die Eltern müssen den 16-Jährigen täglich daran erinnern. Denn Martin ist kein Jugendlicher wie viele andere. Er ist Autist. Er kann und weiß zwar viele Dinge, aber er tut sich schwer mit seinem Tagesablauf oder mit ungewohnten Situationen. Für Menschen wie Martin wurde an der Hochschule Augsburg ein neues elektronisches Gerät entwickelt. Es ist in Form eines Schlüsselanhängers konstruiert und hilft bei Erinnerungsproblemen, den Alltag zu bewältigen.
Laut Statistik leiden mehr als ein Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland an einer Autismus-Spektrum-Störung. Typische Probleme der Betroffenen beschreibt Therapeutin Sigrid Dexel vom Autismus-Zentrum Schwaben so: „Sie verstehen in der Kommunikation mit anderen Menschen vieles falsch, weil sie eine bildliche Sprache oder Wortwitz nicht einordnen können.“Autisten haben auch Schwierigkeiten, die Mimik und Gestik von Gesprächspartnern zu deuten. Darüber hinaus tun sie sich mit Handlungsabläufen im Alltag schwer, so Drexel. Allein vom Zuschauen lernen sie beispielsweise nicht, in welcher Reihenfolge sie sich waschen sollen oder welche Kleidung sie anziehen sollen. „Wenn die Eltern dann dauernd erinnern müssen, sind auch die jungen Autisten genervt“, beschreibt die Therapeutin ihre Erfahrungen.
Martins Eltern fragten sich, ob ihrem Sohn mit einem technischen Gerät geholfen werden könnte. Vielleicht auch mit einer speziellen App. Denn Autisten kommen in der Regel mit Smartphones oder Tablets sehr gut zurecht. Deshalb wandte sich Martins Vater mit einer Bitte um Hilfe an Professor Ulrich Thalhofer. Dieser brachte ein neues Projekt an der Hochschule in Gang. Sechs Studenten der technischen Informatik entwickelten nun das „Gadget für Autisten als Schlüsselanhänger“. Es ist eine Art Elektronikspielzeug ähnlich wie ein Tamagotchi – aber nützlicher.
Das Gerät ist klein, robust und wasserdicht. „Man kann es auch mit unter die Dusche nehmen“, sagt Professor Alexander von Bodisco, der Betreuer des Projekts. Das Gerät zeigt einfache Bilder, an denen man sich orientieren kann – zum Beispiel für die richtige Reihenfolge beim Waschen, Anziehen oder für Gesprächssituationen. Damit Nutzer die Ratschläge beachten, gibt es Signale durch Vibration oder Töne. Das Gerät ist über eine BluetoothSchnittstelle mit einer speziellen App auf dem Smartphone verbunden. So können die Eltern individuell unterschiedliche Vorgaben machen. „Autisten sind sehr unterschiedlich, jeder reagiert anders“, sagen die Informatiker. Das wissen sie aus Arbeitsgruppen mit Eltern und Therapeuten.
Das neu entwickelte Gerät der Hochschulinformatiker ist noch ein Prototyp. Bevor es Autisten im Alltag testen können, sind weitere Schritte nötig. Wie Professor von Bodisco erläutert, sind zwei weitere Studenten aus den Fachbereichen Informatik und Gestaltung in das Projekt eingebunden. Sie entwickeln gerade die Benutzeroberfläche und die Programmstruktur. Bis zum ersten Praxistest soll es nicht mehr lange dauern. „Wir gehen davon aus, dass unser Gerät bis zum Frühjahr benutzbar ist“, sagt von Bodisco. Dann soll es eine Gruppe von Autisten und deren Eltern im Alltag ausprobieren. „Wir sind schon sehr gespannt darauf“, sagt der Vater von Martin. Er hofft, dass es bald eine digitale Plattform geben wird, die möglichst viele Autisten nutzen können.
Auch von Bodisco denkt schon weiter in die Zukunft. Wenn sich das Gerät bewährt und Nachfrage da ist, wäre die Gründung eines Unternehmens möglich. Als weitere mögliche Zielgruppe sieht er Menschen mit Demenz.