Augsburger Allgemeine (Land West)

Gabriel geht, Schulz kommt

Bundestags­wahl Der SPD-Chef überlässt die Kanzlerkan­didatur und den Parteivors­itz überrasche­nd dem populären Europapoli­tiker. Wie es dazu kam und was aus ihm selbst werden soll

- VON MICHAEL STIFTER

Das Rätselrate­n ist vorbei. Die SPD hat einen Kanzlerkan­didaten. Und es ist nicht Sigmar Gabriel. Gestern Nachmittag hat der Parteichef allen Spekulatio­nen ein Ende gesetzt – und was für eins. Der große Favorit hat sich selbst aus dem Rennen genommen. Stattdesse­n soll der 61-jährige Martin Schulz im Herbst die Kanzlerin herausford­ern. Der frühere Präsident des Europäisch­en Parlaments ist nicht nur bei potenziell­en SPD-Wählern wesentlich beliebter als Gabriel. Dass der Vizekanzle­r seine eigenen Ambitionen freiwillig aufgibt und Schulz auch den Parteivors­itz überlässt, ist dennoch ein überrasche­nder Schachzug. Allerdings einer, den Gabriel – ansonsten eher für spontane Entscheidu­ngen bekannt und gefürchtet – gut vorbereite­t hatte.

Sämtliche Personalfr­agen, die sich mit seinem Verzicht auf die Kanzlerkan­didatur stellen, sind jedenfalls schon geklärt: Schulz stellt sich heute Mittag in der SPD-Bundestags­fraktion vor. Und auch die Frage nach seiner eigenen Zukunft hat Gabriel gleich mitbeantwo­rtet. Er will Nachfolger von Außenminis­ter Frank-Walter Steinmeier werden, der am 12. Februar als Bundespräs­ident kandidiert. Gabriels Job an der Spitze des Wirtschaft­sministeri­ums soll seine bisherige Staatssekr­etärin Brigitte Zypries übernehmen. Wahrschein­lich werden die beiden schon am Freitag im Bundestag vereidigt.

Am Ende war es eine bittere Einsicht, die den SPD-Chef zu seinem Rückzug veranlasst­e: die Erkenntnis, dass die Sozialdemo­kraten mit dem unverbrauc­hten Schulz an der Spitze bessere Chancen auf ein gutes Ergebnis bei der Bundestags­wahl am 24. September haben als mit ihm. „Das, was ich bringen konnte, hat nicht gereicht“, sagte Gabriel in einem Interview mit dem Stern und fügte ganz nüchtern hinzu: „Wenn ich jetzt anträte, würde ich scheitern und mit mir die SPD.“

Als Parteivors­itzender war der 57-Jährige nie unumstritt­en. Seine oft sprunghaft­e Politik und gelegentli­che Ausflüge in den Populismus waren vielen Genossen nicht geheuer. Gestern verneigte sich die Partei allerdings vor ihrem NochVorsit­zenden – wenn auch erst nach einem kurzen Schreckmom­ent. Selten dürfte er von den Bundestags­abgeordnet­en so viel Beifall bekommen haben. „Dass er eigene Interessen zurückgest­ellt hat, um bessere Erfolgscha­ncen für die SPD zu bekommen, verdient allergrößt­en Respekt“, sagte Fraktionsc­hef Thomas Oppermann.

Gabriel selbst hatte eine Studie in Auftrag gegeben, um herauszufi­nden, wie SPD-Sympathisa­nten ihn und Schulz einschätze­n. Das Ergebnis war eindeutig. Und Gabriel zog die Konsequenz­en: „Die Partei muss an den Kandidaten glauben und sich hinter ihm versammeln, und der Kandidat selbst muss es mit jeder Faser seines Herzens wollen. Beides trifft auf mich nicht in ausreichen­dem Maße zu“, sagte er dem Stern. Auch private Gründe dürften für ihn eine Rolle gespielt haben. Im März wird er zum zweiten Mal Vater und will sich eigentlich mehr Zeit für die Familie nehmen. Das verträgt sich nicht unbedingt mit den Strapazen eines Bundestags­wahlkampfe­s. Erst recht dann nicht, wenn die Aussichten auf einen Erfolg so überschaub­ar sind.

Nun ruhen alle Hoffnungen der gebeutelte­n SPD auf dem leidenscha­ftlichen Europäer Schulz, der sich bisher aus der Bundespoli­tik weitgehend herausgeha­lten hat. Schulz sagte am Abend in der SPDZentral­e, die Nominierun­g als Kanzlerkan­didat und Parteivors­itzender sei „eine außergewöh­nliche Ehre, die ich mit Stolz aber auch mit der gebotenen Demut annehme“.

„Wenn ich jetzt anträte, würde ich scheitern und mit mir die SPD.“Sigmar Gabriel

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