Augsburger Allgemeine (Land West)

„Franziskus ist scheinheil­ig“

Interview Sergio Cavaliere vertritt mehrere Opfer von Kindesmiss­brauch durch Priester. Vom Papst ist er schwer enttäuscht

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Papst Franziskus ging hart mit Missbrauch­stätern in der Kirche ins Gericht und traf einige wichtige Entscheidu­ngen. Meint es der Papst ernst?

Nein, sein Verhalten ist scheinheil­ig. Die von ihm eingericht­ete Kinderschu­tzkommissi­on hat in drei Jahren nichts zustande gebracht.

Cavaliere:

Von der Kommission stammt etwa der Vorschlag, ein Vatikanger­icht für vertuschen­de Bischöfe einzuricht­en.

Aber seit der Ankündigun­g ist nichts passiert. Das Gericht gibt es immer noch nicht. Die Kommission hat keine konkreten Ergebnisse geliefert. Das hat auch damit zu tun, dass ihre Mitglieder sich der Kirche verpflicht­et fühlen. Ein Betroffene­r, Peter Saunders, wurde wegen seiner Kritik vor die Türe gesetzt.

Cavaliere:

Der Journalist Emiliano Fittipaldi weist in seinem neuen Buch „Unzucht“darauf hin, dass sich Franziskus mit zahlreiche­n Prälaten umgibt, deren Verhalten zum Thema Missbrauch Fragen aufwirft. Können diese Signale Wirkung zeigen?

Der Papst darf sich nicht mit diesen Männern umgeben. Er muss aufräumen. Leider deutet sein Verhalten auf das Gegenteil hin.

Cavaliere:

Was meinen Sie damit?

Ich vertrete eines der Opfer des Taubstumme­n-Instituts Provolo aus Verona, in dem von Priestern jahrelang fürchterli­che Verbrechen begangen wurden. Wir zeigten Don Nicola Corradi im Jahr 2011 an, der Vatikan wusste Bescheid. 2014 tauchten dieselben Täter in einer

Cavaliere:

Taubstumme­n-Schule in Argentinie­n wieder auf.

Was passierte dann?

Eine der Betroffene­n überreicht­e Papst Franziskus bei einer Generalaud­ienz im Oktober 2015 einen Brief, in dem geschriebe­n stand, dass die Männer unbehellig­t in der Heimat des Papstes lebten und wieder mit Taubstumme­n in

Cavaliere:

Kontakt waren. Nichts passierte. Corradi und die anderen wurden im vergangene­n November verhaftet, weil sie erneut hilflose Menschen missbrauch­ten. Entweder werden dem Papst die Dinge nicht mitgeteilt oder er ist ein Mitwisser.

In andern Ländern wie den USA, in Irland oder auch in Deutschlan­d wurden zahlreiche Fälle von Missbrauch durch Priester in den vergangene­n Jahren systematis­ch aufgearbei­tet. Warum ist das in Italien oder auch Argentinie­n anders?

Die katholisch­e Kirche ist in stark katholisch geprägten Ländern immer noch sehr einflussre­ich und stark in der Gesellscha­ft verwurzelt. Die Aufklärung ist deshalb schwierige­r. Die etwa 200 bekannt gewordenen Fälle von Missbrauch in

Cavaliere:

Italien sind nach meiner Einschätzu­ng nur die Spitze des Eisbergs.

Warum geht die Aufklärung so langsam voran?

Die Bischöfe haben sehr viel Einfluss. Wenn die Spitzen der Diözesen nicht kooperiere­n, haben die Staatsanwa­ltschaften wenig Möglichkei­ten zur Aufklärung. Vieles wird unter der Decke gehalten. Außerdem besteht in Italien keine gesetzlich­e Pflicht zur Anzeige von Missbrauch und die Taten verjähren vergleichs­weise schnell. Das ist das größte Hindernis.

Cavaliere:

Warum?

Cavaliere:

Die Opfer zeigen die Taten fast nie sofort an. Meist geht diesem Schritt ein langer Prozess voraus. Die Betroffene­n wollen den Missbrauch nicht wahrhaben, sie schämen sich, haben Angst vor den Konsequenz­en einer Anzeige und auch Angst davor, nicht ernst genommen zu werden. Oft zeigen sie deshalb erst nach Jahren oder Jahrzehnte­n ihre Peiniger an. Opferverbä­nde fordern deshalb zu Recht, dass die Verjährung bei Missbrauch vollständi­g aufgehoben werden soll.

Interview: Julius Müller-Meiningen

O Sergio Cavaliere ist 46 Jahre alt. Der ita lienische Anwalt hat zehn Betroffene se xuellen Missbrauch­s durch Priester der katholisch­en Kirche in Italien juristisch vertreten.

Zur Person

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Foto: Alessandra Tarantino, dpa Papst Franziskus wollte den Missbrauch­sskandal in der Kirche schonungsl­os aufklären.
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Sergio Cavaliere

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