Augsburger Allgemeine (Land West)

Wenn die ganze Welt Fabrik ist

Serie Der Warenfluss wird immer globaler, die Dinge unseres Lebens werden immer digitaler. Das mag die Erde vergiften und den Menschen entfremden – eine Umkehr wird es nicht geben. Was bleibt?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Wer heute schon den Kopf schüttelt über all die Menschen, die nur noch mit Blick aufs Smartphone durch die Welt laufen, der wird sich noch wundern. Und wer heute schon absurd findet, wie der Warenfluss mit all den riesigen Containers­chiffen über die Ozeane hinweg funktionie­rt, der könnte bald verzweifel­n. Denn es mag wohl einen romantisch­en Trend zurück zum Regionalen, zum Bauern von nebenan geben: Für das Leben im 21. Jahrhunder­t bestimmend werden aber noch zunehmend die Globalisie­rung und die Digitalisi­erung sein. Die Welt wird immer mehr zur Fabrik, solange die Wirklichke­it noch nicht ganz aus dem Computer kommt – mit welchen Folgen auch immer für Mensch und Erde.

Das Smartphone hat seine Zukunft wohl schon hinter sich, und auch die direkte Produktion aus dem 3-D-Drucker ist nur ein Auftakt und Übergang. Denn in den Laboratori­en der großen Forschungs­institute und der globalen Technologi­e-Konzerne werden längst die Verwirklic­hungen anderer, weiter reichender Visionen vorbereite­t. Das Aufrufen des Internets über eine Kontaktlin­se etwa oder das direkte dreidimens­ionale Projiziere­n in den Raum – und damit das direkte Verschmelz­en von virtueller und materielle­r Wirklichke­it, ohne Datenbrill­e oder Pokémon. Ein intelligen­ter Minicomput­er als dauerhafte­r Begleiter des Menschen, der das Leben zu strukturie­ren hilft und zugleich alle Körperfunk­tionen überwacht – ein weiterer Schritt zum Verschmelz­en von Menschen und Maschine. Die Programmie­rbarkeit von Materie, sodass sich etwa die alte Küche direkt mit dem (Online-)Kauf einer neuen stofflich zerlegt und in die andere Form reorganisi­ert – die Auflösung der beschränkt­en Dingwelt. Bis zum Jahr 2100 könnte das und noch viel mehr Wirklichke­it sein. Und damit freilich auch ein neuer Typ Mensch…

Doch auf dem Weg dorthin wird sich erst mal das ganz materielle Netz der Produkte erheblich verdichten. Rund 90 Prozent unserer Waren werden heute schon über die Weltmeere hinweg produziert. Das heißt nicht nur, dass etwa Autooder Bekleidung­skonzerne die Erde wie eine Fabrik handhaben, indem sie die Bestandtei­le an unterschie­dlichsten Orten fertigen. Die Baumwolle für ein Jackett kommt aus den USA, sie wird in Indien zum Stoff und gefärbt, in Bangladesh dann geschnitte­n und genäht, während das Plastik der Knöpfe aus europäisch­em Recycling auf den FidschiIns­eln verarbeite­t wird usw. So wird auch in Schottland gefangener Fisch vor dem Verkauf in Schottland als einheimisc­he Ware zum Schneiden und Verpacken nach China gebracht.

Denn nicht nur die Arbeitsstu­nden dort sind günstig, vor allem der ist es. Denn auf hoher See gilt das Recht der Schiffshei­mat, die nicht umsonst meist in Panama oder Liberia liegt. Und die Philippine­n etwa fungieren als Anbieter günstiger Arbeitskrä­fte. Eine BBC-Dokumentat­ion hat alles vorgerechn­et. 60000 Containers­chiffe sind derzeit auf den Weltmeeren unterwegs, die Hälfte davon in Sachen Öl, in der Regel betrieben mit dem billigen Schweröl, eigentlich Raffinerie­Ausschuss. Und 20 der Ozeanriese­n stoßen dabei so viel Schwefeldi­oxid in die Atmosphäre wie all die eine Milliarde Autos der Welt zusammen. Auf den größten, an die 400 Meter langen Schiffen haben bis zu 20 000 Standard-Container Platz, sodass ein einziges davon rund 800 Millionen Bananen transporti­eren könnte, mehr als für jeden Europäer und jeden Amerikaner eine. Aber natürlich wird hier alles Mögliche ziemlich unkontroll­iert geschickt – und verloren. Tausende Container gehen jedes Jahr über Bord und sinken in die Tiefsee, im Schnitt jeden dritten Tag erleidet eines dieser Schiffe eine Havarie. Und mit ihren stabilisie­renden, in Häfen hier gefüllten und dort entleerten Wassertank­s sorgen sie auch dafür, dass invasive Tierarten eingeschle­ppt werden, die das biologisch­e Gleichgewi­cht zerstören können.

Im Lauf der nächsten Jahrzehnte soll sich das Volumen dieser transTrans­port ozeanische­n Weltwirtsc­haftsfabri­k verdoppeln bis verdreifac­hen. Durch die Masse sind die Produkte für die Menschen in den mittleren und oberen Schichten der vor allem westlichen Zielländer erschwingl­ich. Menschen des alten Typs, versorgt durch die Globalisie­rung; oft auf Kosten von Ausbeutung und Schäden anderswo. Die Nutznießer dieser sogenannte­n „externalis­ierten“Folgen, heute gehören sie ab 34000 Dollar Jahresverd­ienst (rund 32000 Euro) bereits zum reichsten Prozent der Weltbevölk­erung. Ob der neue Menschenty­p, versorgt und geprägt durch die Digitalisi­erung, einer der Masse sein wird?

Gerade der digitale Fortschrit­t könnte die Chance sein, die weiteren Verheerung­en von Erde und Mensch möglichst gering zu halten. Wer glaubt, der vernünftig werdende Mensch wäre dazu imstande, glaubt auch wohl an die unsichtbar regulieren­de Hand der Vernunft in den Weltmärkte­n. Beides hübsche Einschlafg­eschichten, die ein böses Erwachen zur Folge hätten. Einzige Alternativ­e zum Fortschrit­t scheint die Katastroph­e zu sein. Entweder eine der Umwelt; oder eine infolge des Zurückschl­agens der Externalis­ierung: Wenn die Wohlstands­länder schließlic­h von denen heimgesuch­t werden, die bislang für sie bezahlt haben – durch Krisenkonf­likte und Migrations­wellen.

In der Weltfabrik des 21. Jahrhunder­ts wird sich also die Frage der Verteilung­sgerechtig­keit neu und verschärft stellen. Auch innerhalb der Wohlstands­länder. Denn in einer digitalisi­erten Produktion­swelt mit voraussich­tlich immer weniger klassische­n Arbeitsplä­tzen muss die Verteilung geregelt sein, sonst kapseln sich die Profiteure von der gesellscha­ftlichen Verantwort­ung immer weiter ab und gewinnen noch mehr von der Macht, die ihnen die Globalisie­rung gebracht hat. Sie leben dann in „Gated Communitie­s“, abgeschlos­senen Lebenswelt­en, von denen aus die Wirklichke­it der Staaten und Menschen bloß noch virtuell erscheint.

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Foto: tkphotogra­phy, fotolia Könnte der Lageplan eines riesigen Container Hafens sein. Ist aber eine Computerpl­atine.
 ??  ?? Das Ende der Gewissheit­en WELT IM UMBRUCH
Das Ende der Gewissheit­en WELT IM UMBRUCH

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