Augsburger Allgemeine (Land West)
Wenn die ganze Welt Fabrik ist
Serie Der Warenfluss wird immer globaler, die Dinge unseres Lebens werden immer digitaler. Das mag die Erde vergiften und den Menschen entfremden – eine Umkehr wird es nicht geben. Was bleibt?
Wer heute schon den Kopf schüttelt über all die Menschen, die nur noch mit Blick aufs Smartphone durch die Welt laufen, der wird sich noch wundern. Und wer heute schon absurd findet, wie der Warenfluss mit all den riesigen Containerschiffen über die Ozeane hinweg funktioniert, der könnte bald verzweifeln. Denn es mag wohl einen romantischen Trend zurück zum Regionalen, zum Bauern von nebenan geben: Für das Leben im 21. Jahrhundert bestimmend werden aber noch zunehmend die Globalisierung und die Digitalisierung sein. Die Welt wird immer mehr zur Fabrik, solange die Wirklichkeit noch nicht ganz aus dem Computer kommt – mit welchen Folgen auch immer für Mensch und Erde.
Das Smartphone hat seine Zukunft wohl schon hinter sich, und auch die direkte Produktion aus dem 3-D-Drucker ist nur ein Auftakt und Übergang. Denn in den Laboratorien der großen Forschungsinstitute und der globalen Technologie-Konzerne werden längst die Verwirklichungen anderer, weiter reichender Visionen vorbereitet. Das Aufrufen des Internets über eine Kontaktlinse etwa oder das direkte dreidimensionale Projizieren in den Raum – und damit das direkte Verschmelzen von virtueller und materieller Wirklichkeit, ohne Datenbrille oder Pokémon. Ein intelligenter Minicomputer als dauerhafter Begleiter des Menschen, der das Leben zu strukturieren hilft und zugleich alle Körperfunktionen überwacht – ein weiterer Schritt zum Verschmelzen von Menschen und Maschine. Die Programmierbarkeit von Materie, sodass sich etwa die alte Küche direkt mit dem (Online-)Kauf einer neuen stofflich zerlegt und in die andere Form reorganisiert – die Auflösung der beschränkten Dingwelt. Bis zum Jahr 2100 könnte das und noch viel mehr Wirklichkeit sein. Und damit freilich auch ein neuer Typ Mensch…
Doch auf dem Weg dorthin wird sich erst mal das ganz materielle Netz der Produkte erheblich verdichten. Rund 90 Prozent unserer Waren werden heute schon über die Weltmeere hinweg produziert. Das heißt nicht nur, dass etwa Autooder Bekleidungskonzerne die Erde wie eine Fabrik handhaben, indem sie die Bestandteile an unterschiedlichsten Orten fertigen. Die Baumwolle für ein Jackett kommt aus den USA, sie wird in Indien zum Stoff und gefärbt, in Bangladesh dann geschnitten und genäht, während das Plastik der Knöpfe aus europäischem Recycling auf den FidschiInseln verarbeitet wird usw. So wird auch in Schottland gefangener Fisch vor dem Verkauf in Schottland als einheimische Ware zum Schneiden und Verpacken nach China gebracht.
Denn nicht nur die Arbeitsstunden dort sind günstig, vor allem der ist es. Denn auf hoher See gilt das Recht der Schiffsheimat, die nicht umsonst meist in Panama oder Liberia liegt. Und die Philippinen etwa fungieren als Anbieter günstiger Arbeitskräfte. Eine BBC-Dokumentation hat alles vorgerechnet. 60000 Containerschiffe sind derzeit auf den Weltmeeren unterwegs, die Hälfte davon in Sachen Öl, in der Regel betrieben mit dem billigen Schweröl, eigentlich RaffinerieAusschuss. Und 20 der Ozeanriesen stoßen dabei so viel Schwefeldioxid in die Atmosphäre wie all die eine Milliarde Autos der Welt zusammen. Auf den größten, an die 400 Meter langen Schiffen haben bis zu 20 000 Standard-Container Platz, sodass ein einziges davon rund 800 Millionen Bananen transportieren könnte, mehr als für jeden Europäer und jeden Amerikaner eine. Aber natürlich wird hier alles Mögliche ziemlich unkontrolliert geschickt – und verloren. Tausende Container gehen jedes Jahr über Bord und sinken in die Tiefsee, im Schnitt jeden dritten Tag erleidet eines dieser Schiffe eine Havarie. Und mit ihren stabilisierenden, in Häfen hier gefüllten und dort entleerten Wassertanks sorgen sie auch dafür, dass invasive Tierarten eingeschleppt werden, die das biologische Gleichgewicht zerstören können.
Im Lauf der nächsten Jahrzehnte soll sich das Volumen dieser transTransport ozeanischen Weltwirtschaftsfabrik verdoppeln bis verdreifachen. Durch die Masse sind die Produkte für die Menschen in den mittleren und oberen Schichten der vor allem westlichen Zielländer erschwinglich. Menschen des alten Typs, versorgt durch die Globalisierung; oft auf Kosten von Ausbeutung und Schäden anderswo. Die Nutznießer dieser sogenannten „externalisierten“Folgen, heute gehören sie ab 34000 Dollar Jahresverdienst (rund 32000 Euro) bereits zum reichsten Prozent der Weltbevölkerung. Ob der neue Menschentyp, versorgt und geprägt durch die Digitalisierung, einer der Masse sein wird?
Gerade der digitale Fortschritt könnte die Chance sein, die weiteren Verheerungen von Erde und Mensch möglichst gering zu halten. Wer glaubt, der vernünftig werdende Mensch wäre dazu imstande, glaubt auch wohl an die unsichtbar regulierende Hand der Vernunft in den Weltmärkten. Beides hübsche Einschlafgeschichten, die ein böses Erwachen zur Folge hätten. Einzige Alternative zum Fortschritt scheint die Katastrophe zu sein. Entweder eine der Umwelt; oder eine infolge des Zurückschlagens der Externalisierung: Wenn die Wohlstandsländer schließlich von denen heimgesucht werden, die bislang für sie bezahlt haben – durch Krisenkonflikte und Migrationswellen.
In der Weltfabrik des 21. Jahrhunderts wird sich also die Frage der Verteilungsgerechtigkeit neu und verschärft stellen. Auch innerhalb der Wohlstandsländer. Denn in einer digitalisierten Produktionswelt mit voraussichtlich immer weniger klassischen Arbeitsplätzen muss die Verteilung geregelt sein, sonst kapseln sich die Profiteure von der gesellschaftlichen Verantwortung immer weiter ab und gewinnen noch mehr von der Macht, die ihnen die Globalisierung gebracht hat. Sie leben dann in „Gated Communities“, abgeschlossenen Lebenswelten, von denen aus die Wirklichkeit der Staaten und Menschen bloß noch virtuell erscheint.