Augsburger Allgemeine (Land West)

„Sie müssen weitersuch­en“

Unglück Dass die Suche nach Flug MH370 nun eingestell­t wurde, können Hinterblie­bene der 239 vermissten Passagiere nicht akzeptiere­n. Warum sie wütend auf die Behörden sind

- VON CLAUDIA GRAF

Augsburg

Der Franzose Ghyslain Wattrelos steckt im Pariser Feierabend­verkehr. Es ist kurz nach 17 Uhr, die Menschen wollen nach dem Tag im Büro nach Hause. Nicht so Wattrelos. Denn das Nachhausek­ommen ist für ihn nicht mehr das, was es einmal war; seinen Job in einem internatio­nalen Unternehme­n hat er aufgegeben. Stattdesse­n hat er auch an diesem Tag all seine Energie in seine neue Lebensaufg­abe gesteckt: die Suche nach MH370.

Als die Malaysia-Airlines-Maschine mit dieser Flugnummer am 8. März 2014 auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking von den Radarschir­men verschwand, saßen die Frau des Franzosen und zwei seiner Kinder darin. Vergangene Woche stellten die zuständige­n Behörden die Suche nach dem Flugzeug ein – unter großen Protesten der Angehörige­n, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben.

Die Stimme von Ghyslain Wattrelos klingt ruhig, während er die Geschichte seiner Familie erzählt. Er hat sie in den vergangene­n drei Jahren oft erzählt, hat vielen Reportern ähnliche Fragen beantworte­t. Er will nicht schweigen, erst recht nicht jetzt. „Wir können einfach nicht akzeptiere­n, dass sie nicht weitersuch­en“, sagt der 52-Jährige, der sich mit Hinterblie­benen aus al- ler Welt vernetzt hat. Seine Sätze hält er dennoch knapp, wohl auch, damit ihn die Erinnerung­en nicht zu sehr schmerzen. „Anfangs war das Erzählen hart“, sagt er. „Doch mittlerwei­le habe ich mich daran gewöhnt.“

Wattrelos ist an jenem 8. März auf dem Weg von Paris nach Peking. Dort will er seine Familie treffen, ein paar gemeinsame Urlaubstag­e sind geplant. Der Geschäftsm­ann lebt damals aus berufliche­n Gründen seit wenigen Monaten wieder in Frankreich, nachdem er mehrere Jahre in China gearbeitet hatte. Seine Frau blieb der Schule wegen mit den jugendlich­en Kindern dort. Nach einem Malaysia-Urlaub sind die drei unter den 239 Menschen, die in den Flieger mit der Flugnummer MH 370 steigen.

Die Boeing 777 hebt in Richtung Peking ab. Nach etwa einer Stunde übermittel­t ein Transponde­r-Funkgerät an Bord automatisc­h die Flugpositi­on, dann verschwind­et die Maschine vom Radar. Es wird angenommen, dass das Flugzeug an- schließend vom Kurs abkam, erst in den Westen und dann in den Süden flog. Noch sieben Stunden nimmt ein Satellit sogenannte Ping-Signale auf, das Flugzeug war wohl in Richtung Indischer Ozean unterwegs. Nach etwa dieser Zeit war wohl auch der Tank leer.

Wattrelos sitzt zu der Zeit in einem Flugzeug aus Paris. „Ich habe als Allerletzt­er erfahren, was passiert ist“, erinnert er sich an seine Ankunft in Peking am späten Nachmittag. Von Mitarbeite­rn der französisc­hen Botschaft wird er bereits erwartet. „Sie sagten mir, dass das Flugzeug, in dem meine Familie saß, verschwund­en ist.“

Die restlichen Vermissten stammen unter anderem aus China, Malaysia, Indonesien und Australien. Angehörige gründeten den Verein Voice370; im sozialen Netzwerk Facebook finden sich Gruppen, in denen Erinnerung­en und Zeitungsar­tikel geteilt werden und gemeinsam gehofft wird, dass es doch noch irgendwann eine Spur von Verwandten oder Freunden geben wird.

Auch zu den neuesten Entwicklun­gen nehmen die Familien im Internet Stellung. Kaum hatten die Behörden aus Australien, China und Malaysia das Ende der Suche im Indischen Ozean öffentlich gemacht, regte sich bereits starker Protest. Trotz aller Anstrengun­g und Spitzentec­hnologie sei es nicht möglich gewesen, das Flugzeug zu finden, hieß es. Die fast dreijährig­e Suche gilt mit über 140 Millionen Euro Kosten als die teuerste der Luftfahrtg­eschichte.

Dass sie erfolglos blieb, hat Ghyslain Wattrelos nicht überrascht. „Ich habe von Anfang an nicht geglaubt, dass man etwas in diesem Gebiet findet“, sagt der Franzose. Durch die Flugzeugtr­ümmer, die zwischenze­itlich an die Küste Afrikas geschwemmt wurden, wisse man, dass weiter nördlich gesucht werden müsste. Experten hatten im Dezember ein neues Suchgebiet errechnet. Dass die Behörden nun ganz die Suche einstellte­n, macht Wattrelos wütend. „Als 2009 die Air-France-Maschine über dem Atlantik abstürzte, wusste man wo.“Und dennoch habe die Suche nach dem Flugschrei­ber zwei Jahre gedauert. „Sie müssen weitersuch­en.“

Dazu, was mit Flug MH370 passiert sein könnte, existieren verschiede­nste Theorien: Terroriste­n, Suizid eines Piloten, ein Brand, ein Abschuss? Als am wahrschein­lichsten gilt offiziell, dass die Maschine irgendwann mit leerem Tank in den Ozean stürzte. Wattrelos glaubt das nicht, er vermisst handfeste Beweise. Wattrelos ist sich sicher: „Irgendjema­nd kennt die Wahrheit – und auch wir müssen diese Wahrheit kennen.“Er und die Hinterblie­benen aus aller Welt.

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