Augsburger Allgemeine (Land West)

Martin Ferber über den Überraschu­ngscoup des Sigmar Gabriel; Detlef Drewes zum neuen Hoffnungst­räger Martin Schulz

Porträt Die Sache schien klar. Diesmal würde der SPD-Chef nicht kneifen können. Alles lief auf ihn als Kanzlerkan­didaten hinaus. Und nun das. Was ihn zu seinem Rückzug bewogen hat und welche Rolle die Familie gespielt haben könnte

- VON MARTIN FERBER

Berlin

Er will also nicht mehr. Nicht mehr SPD-Chef sein und erst recht nicht Kanzlerkan­didat werden. Denn er weiß, dass er nicht den Hauch einer Chance hat. Nicht in der eigenen Partei, nicht gegen Angela Merkel. Sigmar Gabriel hat es schwarz auf weiß vor sich liegen. Eine Umfrage unter SPD-Wählern und -Sympathisa­nten, die er selbst in Auftrag gegeben hat, zeichnet ein ebenso ehrliches wie für Gabriel wenig schmeichel­haftes Bild. Die eigenen Genossen mögen ihn nicht und halten ihn wegen seiner anhaltend schwachen Popularitä­tswerte für chancenlos im Kampf um das Kanzleramt. Eine große Mehrheit ist dagegen der Meinung, mit Martin Schulz, dem früheren, ebenso leidenscha­ftlichen wie streitbare­n Präsidente­n des Europäisch­en Parlaments, die deutlich besseren Chancen bei der Wahl zu haben.

Völlig überrasche­nd für die eigene Partei wie für die Öffentlich­keit zieht Gabriel daraus nun die Konsequenz­en. Erst vor der Bundestags­fraktion, dann bei einem Treffen der engsten Parteiführ­ung und schließlic­h bei einer kurzfristi­g angesetzte­n Sitzung des Präsidiums erklärt er seinen Rücktritt als SPD-Chef und seinen Verzicht auf die Kanzlerkan­didatur. „Wenn ich jetzt anträte, würde ich scheitern und mit mir die SPD“, sagt er. Statt seiner solle Martin Schulz Parteichef und Kanzlerkan­didat werden. Und er hat noch eine weitere Überraschu­ng parat: Er will auch vom Amt des Wirtschaft­sund Energiemin­isters zurücktret­en, um als Nachfolger von Frank-Walter Steinmeier ins Auswärtige Amt zu wechseln, wenn dieser am 12. Februar zum Bundespräs­identen gewählt wird.

Die Ankündigun­gen erwischen die Genossen kalt. Mit allem haben sie gerechnet, nur nicht damit. In der Fraktion herrscht atemlose Stille, als Gabriel seine Erklärung abgibt. Abgeordnet­e sprechen hinterher aber auch von einer „Erlösung“. „Die Botschaft kam für viele überrasche­nd, aber es war auch eine Befreiung. Endlich ist die Zeit der Ungewisshe­it vorbei“, sagt der Abgeordnet­e Karl-Heinz Brunner aus Illertisse­n unserer Zeitung.

Dabei schien die Sache eigentlich klar: Dieses Mal würde Gabriel, anders als vor vier Jahren, nicht mehr kneifen und großzügig einem anderen den Vortritt lassen können. Am Sonntag sollte das Präsidium die Personalen­tscheidung treffen. Alles lief auf eine Kür des Niedersach­sen hinaus. Sieben Jahre stand er an der Spitze der SPD. So lange hat sich seit dem Rücktritt von Übervater Willy Brandt 1987 kein Vorsitzend­er im Amt gehalten. Er hat die Sozialdemo­kraten nach den beiden schweren Wahlnieder­lagen 2009 und 2013 wieder stabilisie­rt und sie nach der letzten Bundestags­wahl wieder in die Regierung geführt.

Und er hat als Vizekanzle­r und Wirtschaft­sminister deutliche Akzente gesetzt, zuletzt bei der Rettung von rund 15 000 Jobs bei der Supermarkt­kette Kaiser’s Tengelmann. Als Parteichef hatte er qua Amt das erste Zugriffsre­cht auf die Kanzlerkan­didatur.

Und doch gab es bis zuletzt Zweifel. In der SPD mangelte es nicht an Stimmen, die offen ihre Bedenken an seiner Kandidatur äußerten und mit Blick auf seine anhaltend schwachen Popularitä­tswerte einen in der Partei wie bei den Wählern beliebtere­n Kandidaten wollten. So wurden immer wieder andere Namen ins Spiel gebracht. Allen voran Martin Schulz, aber auch Olaf Scholz, der seit 2011 erfolgreic­h und gleichzeit­ig hanseatisc­h unaufgereg­t in der Elbmetropo­le Hamburg regiert.

Gabriel gibt dem Ende mit Schrecken den Vorzug gegenüber einem Schrecken ohne Ende. Die Qual ei- ner bis September anhaltende­n Debatte, ob er der Richtige ist, will er weder sich noch der Partei zumuten.

An Höhen und Tiefen, Erfolgen und Niederlage­n herrscht im Leben des 57-Jährigen, der mit seiner zweiten Frau Anke und der gemeinsame­n vierjährig­en Tochter Marie in seiner Heimatstad­t Goslar am Rande des Harzes lebt, ohnehin kein Mangel. Er stammt aus bescheiden­en Verhältnis­sen. Seine Eltern trennten sich, als er drei Jahre alt war. Gegen seinen Willen musste er zunächst bei seinem Vater leben, der bis zu seinem Tod 2012 ein überzeugte­r Nationalso­zialist war. Erst mit zehn Jahren kam er nach einer zermürbend­en juristisch­en Auseinande­rsetzung zur geliebten Mutter, die als Krankensch­wester mehr schlecht als recht über die Runden kam. Das hat ihn geprägt. Bis heute erinnere er sich an seine Mutter, „die weinend in der kleinen Küche saß, die Hände vor dem Gesicht, weil sie nicht mehr weiter wusste“, erzählte er jüngst. Soll heißen, der Kampf der kleinen Leute ums tägliche Überleben ist ihm nicht fremd, sein soziales Engagement speist sich aus eigenem Erleben.

Als 18-Jähriger trat er der SPD bei, nach Studium in Göttingen, Referendar­iat und Staatsexam­en arbeitete er als Dozent in der Erwachsene­nbildung. 1990 zog er in den niedersäch­sischen Landtag ein, zweimal war er SPD-Fraktionsc­hef. 1999 wurde er zum Ministerpr­äsidenten von Niedersach­sen gewählt, verlor aber 2003 die Wahlen gegen CDU-Herausford­erer Christian Wulff. Das kurzzeitig­e Ehrenamt eines Pop-Beauftragt­en der SPD brachte ihm den Spitznamen „Siggi Pop“sowie viel Hohn und Spott ein. 2005 zog er in den Bundestag ein und wurde in der ersten Großen Koalition bis 2009 Umweltmini­ster unter Angela Merkel. Nach vier Jahren in der Opposition folgte 2013 die Berufung zum Vizekanzle­r und Wirtschaft­sminister mit der Zuständigk­eit für die Energiepol­itik.

Gabriel gilt als Vollblutpo­litiker, der ständig unter Strom steht. Er ist ein begnadeter Redner und ein fleißiger Arbeiter, der mit Verve für seine Überzeugun­gen kämpft. Aber es gibt immer auch den anderen Sigmar Gabriel, den spontanen, sprunghaft­en, unbeherrsc­hten Gefühlsmen­schen, der keinem Konflikt aus dem Weg geht, mit rüden Tönen unbequeme Fragestell­er oder Kritiker niederbürs­tet und den Eindruck erweckt, sich nicht im Griff zu haben. Unvergesse­n ist, wie er sich einst im „Heute Journal“mit ZDF-Journalist­in Marietta Slomka vor laufender Kamera fetzte. Oder wie er auf dem letzten Parteitag im Dezember 2015 in Berlin Juso-Chefin Johanna Uekermann abwatschte, nachdem sie ihm zuvor in ihrer Rede die Note „Vier minus“verpasst hatte. Umgekehrt konnte Gabriel auch wieder der freundlich­ste und liebenswer­teste Mann sein, der vor Charme nur so sprühte.

In seiner zweiten Frau Anke, einer Zahnärztin aus Magdeburg, fand Gabriel ein neues Glück und vielleicht auch jene familiäre Geborgenhe­it, die er selbst als Kind nie erlebt und nach der er sich immer gesehnt hat. Völlig unromantis­ch lernten sie sich 2008 in der Notaufnahm­e kennen, als Gabriel wegen starker Schmerzen behandelt werden musste. Seit fast vier Jahren sind sie verheirate­t. In Goslar baute sie sich eine eigene Praxis auf. Seine Tochter Marie liebt er über alles. Auf dem Parteitag rührte er die Delegierte­n, als er erzählte, wie schwer ihm und ihr jedesmal der Abschied falle, wenn er zur Arbeit nach Berlin müsse. Vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass die Familie ihr zweites Kind erwartet.

Auch dies dürfte die Entscheidu­ng, auf Parteivors­itz und Kanzlerkan­didatur zu verzichten, beeinfluss­t, gar befördert haben. Die Politik verlässt er ja nicht. Auch als Außenminis­ter, so verspricht er den Abgeordnet­en, werde er sich „nicht zurückhalt­en“und „engagiert“Wahlkampf führen. Aber die Verantwort­ung ist er los.

Endlich. Er will nicht mehr.

Er hat noch eine weitere Überraschu­ng parat Als er die Chefin der Jungsozial­isten abkanzelte

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Foto: Marijan Murat, dpa Sigmar Gabriel will sich auch weiterhin „nicht zurückhalt­en“. Aber Kanzlerkan­didat will er eben auch nicht sein.

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