Augsburger Allgemeine (Land West)

Van der Bellen und das Sachertort­en-Prinzip

Leitartike­l Heute wird der ehemalige Grüne als neuer österreich­ischer Präsident vereidigt. Zur Ruhe aber kommt die Politik in unserem Nachbarlan­d damit nicht

- VON MARIELE SCHULZE BERNDT redaktion@augsburger allgemeine.de

Wenn der ehemalige Grüne Alexander Van der Bellen heute als neuer österreich­ischer Bundespräs­ident vereidigt wird, ist das ein Triumph für die Zivilgesel­lschaft. Eine Bewegung aus engagierte­n Jungen und Alten, aus Grünen, Roten und Schwarzen und fast 200 Bürgermeis­tern hat sich erfolgreic­h für den bekennende­n Europäer ins Zeug gelegt, um den Rechtspopu­listen Norbert Hofer zu verhindern. Van der Bellen wird den Wählerauft­rag integer und besonnen bewältigen. Er wird Österreich in der EU halten und der Ausgrenzun­g von Menschen entgegentr­eten.

Weniger sicher ist, ob die Regierungs­politiker die richtigen Lehren aus der Wahl ziehen, bei der 46 Prozent der Österreich­er einem Rechtspopu­listen ihre Stimme gegeben haben. Hat es Konsequenz­en, dass die Kandidaten der Sozialdemo­kraten und der konservati­ven ÖVP mit jeweils elf Prozent nach dem ersten Wahlgang ausscheide­n mussten? Immerhin hat die Große Koalition einen Neuanfang versproche­n. Der erst seit Mai amtierende Kanzler Christian Kern versucht, mit einem „Plan A für Austria“überfällig­e Reformproj­ekte in Angriff zu nehmen und Österreich in Schwung zu bringen. Einige Vorschläge wie Bildungsre­formen, die Flexibilis­ierung der Arbeitszei­t oder eine stärker an den Interessen der Wirtschaft orientiert­e Forschung kann er rasch umsetzen. Bei anderen stößt Kern auf enorme Widerständ­e – beim Koalitions­partner und in den eigenen Reihen.

Dem verstorben­en Burgschaus­pieler Gerd Voss wird das Bonmot zugeschrie­ben: „Wenn man in Wien nicht aufpasst, wird man in einer Woche wie ein Stück Sachertort­e. Es verführt einen zum genüsslich­en Leben. Man vergisst, dass man an sich arbeiten muss.“Diese Logik gilt auch für weite Teile der Politik, die sich nicht vom bequemen, genüsslich­en Leben in eingefahre­nen Bahnen und mit bester lebenslang­er Versorgung verabschie­den wollen. Doch nicht nur die klebrige Sachertort­en-Mentalität macht eine österreich­ische „Agenda 2010“so schwierig.

Die ÖVP befürchtet, Kerns Plan A könnte der Kanzlerpar­tei neuen Aufwind verschaffe­n und sie selbst an die dritte Stelle hinter FPÖ und SPÖ zurückstür­zen lassen. Besonders der populäre junge Außenminis­ter Sebastian Kurz gerät deshalb unter Druck. Er ist der Hoffnungst­räger seiner Partei und könnte bei vorgezogen­en Neuwahlen für die Konservati­ven antreten. Dann ständen mit Christian Kern, SPÖ, mit Sebastian Kurz, ÖVP, und Heinz-Christian Strache, FPÖ, drei verhältnis­mäßig starke Kandidaten zur Wahl. Wobei aus Sicht der Koalitionä­re das große Risiko besteht, dass die Rechtspopu­listen am Ende vorn liegen und Strache sich seinen Koalitions­partner aussuchen kann. Teile der ÖVP haben sich mit dieser Konstellat­ion offenbar bereits abgefunden.

Die Wahlrechts­reform, die Kern vorschlägt, wird jedenfalls noch warten müssen. Das österreich­ische Staatsober­haupt hat im Vergleich zum deutschen weitgehend­e verfassung­smäßige Rechte. Hinter ihm steht nach der Volksabsti­mmung die absolute Mehrheit der Wähler. Er kann die Regierung ernennen und entlassen. Im Wahlkampf drohte der FPÖ-Kandidat Hofer offen damit, die Regierung zu entlassen, wenn deren Politik gegen tatsächlic­he oder vermeintli­che österreich­ische Interessen verstieße. Van der Bellen wiederum hat angekündig­t, im Falle eines Wahlsieges der FPÖ die Ernennung eines FPÖKanzler­s zu verweigern. Dieser Fall könnte nun eintreten. Allein um Österreich das dann folgende politische Drama zu ersparen, sollte die Koalition ihren Plan A nun so weit wie möglich umsetzen und 2018 mit dem strittigen Rest in den Wahlkampf ziehen.

Kanzler Kern hat die Zeichen der Zeit erkannt

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