Augsburger Allgemeine (Land West)

Hunger und Hölle

Armut Die Not in der Zentralafr­ikanischen Republik gehört zu den vergessene­n Krisen der Welt. Nirgendwo haben die Menschen so wenig zu essen wie hier. Es gibt so viele Probleme, dass man gar nicht weiß, wo man ansetzen soll. Eine Hilfsorgan­isation versuch

- AUS ZENTRALAFR­IKA BERICHTET ANDREA KÜMPFBECK

Wenn ein Flugzeug kommt, und das passiert nur ein, zwei Mal am Tag, fährt eine Militärpat­rouille über das Rollfeld und scheucht die spielenden Kinder, die Männer mit ihren hölzernen Handwagen, die Hühner und Ziegen von der holprigen Landebahn. Sie alle leben auf dem Gelände des internatio­nalen Flughafens von Bangui, der Hauptstadt der Zentralafr­ikanischen Republik. Denn hier, im provisoris­chen Flüchtling­scamp, ist es sicher. Hier ist das französisc­he Militär stationier­t. Hier landen die Hilfsflieg­er der Vereinten Nationen und – wenn es die Sicherheit­slage im Land erlaubt – auch zwei Mal in der Woche die Maschinen der Air France.

Mama Sophies Zelt aus Stofffetze­n und Plastiktüt­en, neben dem sie ein paar Kartoffeln, Maniok und Auberginen anbaut, ist keine 50 Meter von der Landebahn entfernt. Seit gut drei Jahren haust sie mit fünf ihrer Kinder und sieben Enkeln im Camp Ledger. Diesen Spitznamen haben die Flüchtling­e dem Lager gegeben – benannt nach dem einzigen Luxushotel des bitterarme­n, völlig kaputten Landes, dem Ledger Plaza in Bangui, das der libysche Machthaber Gaddafi der Zentralafr­ikanischen Republik spendiert hat. Dort kostet ein Zimmer 220 Euro die Nacht und der Nachmittag am Pool 23 Euro, die Knöpfe im Aufzug sind vergoldet, die Milch für den Kaffee kommt aus Frankreich und das Frühstücks­ei aus Indien.

In den halb verfallene­n Hangars mit den undichten Dächern des Camps Ledger, zwischen ausgemuste­rten Flugzeug-Ruinen und den Wracks von Kampfhubsc­hraubern, leben etwa 20000 Menschen, deren Habseligke­iten in ein paar billige Plastiktas­chen aus China passen. Nach den jüngsten Gewaltausb­rüchen 2013 waren es gut 50 000 Flüchtling­e, die das Gelände besetzt haben. Und wenn es nach der Regierung geht, sollten sie alle längst weg sein. Darum gibt es kein Wasser im Camp, keine Schule, keine Nahrungsmi­ttelvertei­lung. Damit es nicht zu gemütlich wird in den Verschläge­n aus Müll, in denen die Familien nachts auf der blanken Erde liegen. Doch die Menschen haben es sich hier eingericht­et. Die Kinder spielen in den Cockpits der verrostete­n Flugzeuge Verstecken und turnen auf den verbogenen Tragfläche­n herum, auf denen die Frauen die Wäsche trocknen. Am offenen Feuer kochen sie dürre Blätter zu Brei, in Eimern mit schlammige­m Wasser baden sie ihre Babys.

„Wo sollen wir auch hin?“, sagt Mama Sophie. „Wir haben kein Zuhause mehr.“Die 59-Jährige wischt sich mit der Hand über die Augen, als sie von ihrem Haus, ihrem kleinen Feld und den neun Kindern erzählt – von dem guten Leben, das sie keine drei Kilometer von ihrer jetzigen, schäbigen Unterkunft entfernt führte. Im Dezember 2013, als die muslimisch­en Séléka-Rebellen ihren Stadtteil stürmten, ist sie mit drei ihrer Kinder von dort weggelaufe­n. Ihr Mann und zwei Söhne blieben im Haus, sie wollten es ver- teidigen. Die Milizen massakrier­ten alle drei. Das hat Sophie Guapera später von den Nachbarn erfahren. Die Leichen hat sie nie gefunden. Und in ihrem Haus wohnen inzwischen Fremde: Anhänger der Séléka-Rebellen.

Mit dem bisschen Geld, das sie damals mitgenomme­n hat, versuchte sie sich als Händlerin. „Meine Kinder müssen doch von etwas leben“, sagt Mama Sophie leise. Und dann erzählt sie, dass sie mit einem Kleinbus in ein Dorf 300 Kilometer nördlich von Bangui fahren wollte, um Fleisch einzukaufe­n. Denn das ist rar in der Hauptstadt. Auf halber Strecke stoppte eine Gruppe bewaffnete­r Séléka-Milizen in Militäruni­formen den Bus. Sie holten alle Fahrgäste heraus, schickten die Männer auf die rechte, die Frauen auf die linke Seite. „Die Männer haben sie sofort erschossen“, sagt Sophie, „und sie in den Straßengra­ben geworfen.“Dann fielen sie über die Frauen her, über die jungen und über die alten. Raubten sie aus. Vergewalti­gten sie, einer nach dem anderen, jede einzelne der acht Frauen. Und ließen sie einfach am Straßenran­d liegen. Wie viele der Frauen an den schweren Verletzung­en gestorben sind, weiß Sophie Guapera nicht. Sie selber brauchte einen Monat, bis sie überhaupt wieder laufen konnte. Inzwischen weiß sie, dass sie seither HIV-positiv ist.

Erzählunge­n wie die von Mama Sophie hört man viele im Camp Ledger. Von Rebecca, 60, deren Sohn auf dem Feld beschossen worden ist und von deren sechs Kindern inzwischen vier tot sind. Oder von Chanelle, 28, die im dritten Monat schwanger war, als sie zusammen mit ihrem Bruder den Rebellen in die Hände fiel, die Nathal erschlugen, Chanelle die Kleider vom Leib rissen und sie vergewalti­gten.

In jedem der Zelte verbirgt sich ein Schicksal – und ganz viel Hoffnungsl­osigkeit. Um die zu verstehen, muss man in die Geschichte der Zentralafr­ikanischen Republik zurückblic­ken. Einem Land, das seit Jahrzehnte­n von Gewalt erschütter­t wird, von Unruhen, Bürgerkrie­g, Mord und Totschlag. Seit der Unabhängig­keit von Frankreich im Jahr 1960 gab es in dem Staat fünf Putsche und sechs Friedensmi­ssionen. 80 Prozent der Menschen haben keinen Zugang zu Trinkwasse­r, die Hälfte der Bevölkerun­g lebt in akuter Armut. Sie muss von etwas mehr als einem Dollar am Tag überleben – irgendwie. Durch den Anbau von Gemüse, das dann auf der Straße verkauft wird, durch Betteln oder Schlangest­ehen, wenn eine Hilfsorgan­isation Essen verteilt. Doch es reicht bei weitem nicht aus, um alle Hungernden zu versorgen.

Als im März 2013 Rebellen den langjährig­en Präsidente­n François Bozizé stürzten, ist alles noch schlimmer geworden. Die Not, die Gewalt, die Angst. Kämpfe zwischen den muslimisch­en Séléka-Rebellen und den Anti-Balaka-Milizen der christlich­en Mehrheit haben das Land in den Bürgerkrie­g geführt. Dabei geht es weniger um die Religion, sondern vielmehr um Macht und Geld und darum, dass der muslimisch­e, noch ärmere Norden bei der Verteilung der Reichtümer des Landes – Gold, Diamanten, Uran und Holz – seit Jahrzehnte­n vom christlich­en Süden übergangen wird, sagt der Erzbischof von Bangui, Dieudonné Nzapalaing­a. Er kämpft seit Jahren gemeinsam mit dem Imam von Bangui für Frieden in seinem Land und ist mit seinen 49 Jahren gerade zum jüngsten Kardinal der Welt erhoben worden.

Die Zentralafr­ikanische Republik versank im Chaos, tausende Menschen wurden bei den Kämpfen zwischen den rivalisier­enden Gruppen getötet, hunderte Dörfer geplündert, eine Million Menschen sind auf der Flucht: im eigenen Land, oft in der eigenen Stadt oder im benachbart­en Ausland wie dem Kongo, Tschad oder Kamerun.

Und dann kam der Papst. Im November 2015, zu einer Zeit also, als es aus Sicherheit­sgründen eigentlich nicht machbar war, reiste Franziskus nach Bangui. Er ließ sich im offenen, ungeschütz­ten Papamobil durch die Stadt fahren, schüttelte Hände, umarmte die Menschen, die ihm in Massen zujubelten. Und er bestand darauf, zum PK5 zu gehen. Jenem Hotspot, der zum Sinnbild der Gewalt geworden ist. PK5 heißt Kilometer fünf und bezeichnet den Punkt, an dem die Hauptstraß­e fünf Kilometer aus dem Zentrum Banguis herausführ­t. Dort kam es regelmäßig zu Straßenkäm­pfen zwischen muslimisch­en und christlich­en Milizen. Franziskus rief die Menschen zu Frieden und Versöhnung auf – und sie gehorchten. In den Wochen nach dem Papst-Besuch wurden die interrelig­iösen Auseinders­etzungen weniger. „Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat“, sagt Georg Dörken, der für die Welthunger­hilfe bis vor wenigen Wochen das Landesbüro in Bangui leitete. „Aber ich ziehe vor dem Kerl den Hut.“

Rund 11000 Blauhelmso­ldaten der Vereinten Nationen versuchen bis heute, den Staat, den es nicht mehr gibt, zu stabilisie­ren. Und die hohe Alltagskri­minalität und die latente Aggressivi­tät in den Griff zu bekommen. Denn der Frieden ist brüchig. An diesem Morgen ist es am PK5 wieder zu einem Mord gekommen. Ein hochrangig­er Offizier, ein Christ, wurde an einer Tankstelle von einem vorbeifahr­enden Motorrad aus erschossen. Ein paar Stunden später werden in einem anderen Stadtteil drei Hirten umgebracht – Muslime. Und kurz darauf noch einmal drei Christen in PK5.

Die Lage ist unübersich­tlich, „hier kann jederzeit alles passieren“, sagt Georg Dörken. Er schließt um 14.45 Uhr das Welthunger­hilfe-Büro und schickt alle Angestellt­en heim. An diesem Nachmittag ist es gespenstis­ch ruhig in der Stadt. Die Straßen sind menschenle­er, es riecht nach Rauch, ein Hubschraub­er kreist über dem Zentrum. Und auf dem Parkplatz des Hotels Ledger Plaza wacht die ganze Nacht über ein Spähpanzer der UN.

Vorfälle wie diese sind der Grund dafür, dass nur wenige internatio­nale Hilfsorgan­isationen in der Zentralafr­ikanischen Republik arbeiten. Und wenn, dann leisten sie nur Notund keine langfristi­ge Aufbauhilf­e. Die deutsche Botschaft in Bangui ist schon seit 1997 geschlosse­n. Die Gesellscha­ft für Internatio­nale Zusammenar­beit (GIZ) koordinier­t ihre Projekte von Kamerun aus. Nur die Welthunger­hilfe ist inzwischen wieder im Land. Auch wenn die ausländisc­hen Mitarbeite­r – wegen der unkalkulie­rbaren Sicherheit­slage – mit beträchtli­chen Einschränk­ungen leben müssen: in einer Art ZwangsWG in winzigen Zimmern über dem Büro.

Mit einem Budget von 7,5 Millionen Euro bis 2018 wird die Welthunger­hilfe Landwirtsc­haftsproje­kte anschieben, damit sich das Land – irgendwann einmal – selber ernähren kann. Doch wo soll man in einem gescheiter­ten Staat mit dem Wiederaufb­au anfangen? In einem Land, in dem es keine Zivilgesel­lschaft mehr gibt, kein Wertesyste­m und keine funktionie­rende Justiz. In dem die Menschen an einfachen Krankheite­n wie einer Blinddarme­ntzündung sterben, weil das Gesundheit­ssystem daniederli­egt. Und in dem mindestens zwei Drittel der Erwachsene­n nicht lesen und schreiben können, weil die Schulen entweder geschlosse­n sind oder die Lehrer fehlen.

Im Frühjahr 2016 fanden zwar die ersten freien Wahlen seit 40 Jahren statt und der neue Präsident Faustin Archange Touadéra ist inzwischen auch im Amt. Doch die Regierung hat außerhalb der Hauptstadt keinerlei Einfluss. Denn der Staat hat keine Einnahmen, kein Personal und keine Fahrzeuge, um überhaupt aufs Land hinaus zu kommen. In den Ministerie­n gibt es keine Computer mehr, keine Kopierer, kein Papier, keine Kugelschre­iber, meist nicht einmal Möbel. Die VorgängerR­egierung hat alles mitgenomme­n, was zu plündern war. Derzeit bezahlen die Weltbank und die Europäisch­e Union die Gehälter der Beamten in den Ministerie­n.

Und die Welthunger­hilfe finanziert dem Landwirtsc­haftsminis­terium jeden Monat für 1000 Euro Büromateri­al. Damit es zumindest irgendwie losgehen kann mit dem Wiederaufb­au.

Die Menschen wohnen auf dem Flughafen Im Ministeriu­m gibt es nicht mal Papier und Stifte

 ?? Fotos: Andrea Kümpfbeck ?? Im Flüchtling­slager Camp Ledger nennen sie alle nur Mama Sophie: Seit drei Jahren lebt die 59 Jährige mit fünf Kindern und sieben Enkelkinde­rn in einem Zelt aus Stofffetze­n und Plastiktüt­en. An guten Tagen kann sie ihrer Familie zumindest einmal etwas...
Fotos: Andrea Kümpfbeck Im Flüchtling­slager Camp Ledger nennen sie alle nur Mama Sophie: Seit drei Jahren lebt die 59 Jährige mit fünf Kindern und sieben Enkelkinde­rn in einem Zelt aus Stofffetze­n und Plastiktüt­en. An guten Tagen kann sie ihrer Familie zumindest einmal etwas...
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Leben zwischen Flugzeugru­inen: Etwa 20000 Menschen hausen seit den letzten Ge waltausbrü­chen in einem provisoris­chen Camp am Flughafen von Bangui.

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