Augsburger Allgemeine (Land West)

Wahre Größe

Klassik Daniel Barenboim triumphier­t in den USA. Und bezieht Stellung

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Nein, nicht nur Amerika müsse besser werden, die ganze Welt sollte wieder „great“sein, ruft Daniel Barenboim den Zuhörern in der Carnegie Hall zu. Gerade hat die Staatskape­lle Berlin die zweite Sinfonie von Anton Bruckner beendet, einige Besucher wollen schon gehen. Da ergreift der Dirigent das Wort. Genau vor 60 Jahren sei er hier zum ersten Mal aufgetrete­n, erzählt er über sein Debüt in der Carnegie Hall 1957. Und dann holt Barenboim zu einem Plädoyer für die Verteidigu­ng der Kultur aus. Wer eine Politik ohne Werte betreibe, zerstöre das Gefüge der Gesellscha­ft. Jeder im Saal versteht sofort, wer gemeint war – Donald Trump, der gerade gekürte neue Präsident der USA. Die fast 2800 Zuhörer erheben sich zu einer Ovation, manche haben Tränen in den Augen.

Barenboim, 74, und die Staatskape­lle begeistern in diesen Tagen New Yorks Klassiklie­bhaber. Neun Bruckner-Sinfonien in einem Zeitraum von elf Tagen, dazu jeden Abend ein Klavierkon­zert von Mozart, ebenfalls mit Barenboim in seiner Doppelroll­e als Pianist und Dirigent. Mit ihrem Auftritt im „Big Apple“schreiben der Generalmus­ikdirektor der Berliner Staatsoper und sein Orchester Musikgesch­ichte in den USA. Noch nie sind in Amerika alle Sinfonien Bruckners als Gesamtzykl­us aufgeführt worden. Zu schwer und wohl zu sperrig muten die Monumental­werke des Österreich­ers an. Die auf Sponsoren, reiche Mäzene und den Ticketverk­auf angewiesen­en Veranstalt­er scheuten bisher das Risiko eines solchen Programms. Barenboim und der künstleris­che Direktor der Carnegie Hall, Clive Gillinson, gingen das Wagnis einer Komplettau­fführung ein und werden nun dafür reichlich belohnt: Zur Halbzeit zeichnet sich ein Riesenerfo­lg ab, bei jedem der Konzerte gibt es rauschende­n Applaus.

„Die Menschen sind hier äußerst neugierig auf den sehr deutschen Sound der Staatskape­lle“, erklärt Gillinson den Erfolg der Berliner. Barenboim selber spricht von „archäologi­scher Arbeit“bei der Aufführung Bruckners. Man müsse seiner Musik auf den Grund gehen, sie wie einen antiken Fund ausgraben und die Klangschic­hten dann wie die Baumeister einer Kathedrale wieder Stück für Stück auftürmen.

Das Ergebnis lässt das Publikum staunen: Bei Bruckners Zweiter verharrt es hoch konzentrie­rt auf seinen Sitzen, wenn Barenboim die Streicher mit ihrem samtigen Klang führt, die Blechbläse­r den riesigen Raum füllen und sich Bruckners Motive mit ihren fast unendliche­n Variatione­n zum fortissimo steigern.

Der Maestro wirkt dabei wie ein einfacher Mitspieler, reißt die Musiker in seiner Begeisteru­ng mit. „Sie in der Halle und wir auf der Bühne – wir bilden eine große Gemeinscha­ft“, spricht er dann zum Publikum. Wer klassische Musik als etwas Elitäres betrachte, gehe wohl nie ins Konzert und fühle auch nichts beim Klang der Musik. Kommentar des Publikums: Riesenappl­aus. Esteban Engel, dpa

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Foto: dpa Daniel Barenboim

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