Augsburger Allgemeine (Land West)

Was Grabsteine alles erzählen

Geschichte Eine Tagung ging der Frage nach, weshalb das Dokumentie­ren des Alltäglich­en immer wichtiger wird

- VON MARTIN FREI

Irsee Das Große spiegelt sich im Kleinen oft unerwartet facettenre­ich wider. So richten Historiker schon seit einiger Zeit ihre Aufmerksam­keit verstärkt auf geschichtl­iche Quellen abseits der großen Archive und Bibliothek­en. Dass sogenannte Mikrounter­suchungen wertvolle Beiträge zur Präzisieru­ng, Differenzi­erung oder einfach zur griffigen Illustrier­ung großer historisch­er Zusammenhä­nge liefern können, wurde bei der jüngsten Tagung der Historisch­en Vereine, Heimatvere­ine und Museen in Schwaben deutlich. So ermunterte Bezirkshei­matpfleger Peter Fassl gerade diese Institutio­nen mit ihren vielen Mitglieder­n, ihrer lokalen Vernetzung sowie ihrer flächendec­kenden Präsenz, diese Rolle beim Erhalt des historisch­en Erbes zu übernehmen. Das Sammeln, Bewahren und Dokumentie­ren auch alltäglich­er oder zeitgenöss­ischer Dinge und Schriftstü­cke sei eine immer wichtigere Aufgabe, zumal diese von den profession­ellen Akteuren der Geschichts­forschung und des Archivwese­ns höchstens punktuell geleistet werden könne.

Dass Hobby-Historiker interessan­te Projekte – mit durchaus bemerkensw­erten Ergebnisse­n – schultern können, bewiesen einige Referenten, die die Bezirkshei­matpflege und die Schwabenak­ademie ins Kloster Irsee bei Kaufbeuren eingeladen hatten. Da berichtete etwa die von Forscherdr­ang umgetriebe­ne Altbäuerin Martha Mayer von ihrem 16 Jahre andauernde­n Vorhaben. Die 75-Jährige trug die Sterbebild­er aller zusammen, die seit 1870 auf dem Friedhof ihres 250-Seelen-Heimatorte­s Hausen bei Fremdingen am Nordrand des Rieses beigesetzt wurden. Die Gestaltung dieser Drucksache­n dokumentie­rt nicht nur den Wandel des Kunstgesch­macks und der drucktechn­ischen Möglichkei­ten, sondern auch der (katholisch­en) Religionsp­raxis im Zusammenha­ng mit Todesfälle­n. Davon zeugt etwa das allmählich­e Verschwind­en der auf den Blättchen geforderte­n Ablassgebe­te für die Verstorben­en.

Das Themenfeld Bestattung­swesen bearbeiten auch Sabine Scheller und Manfred Wegele. Erstere dokumentie­rt mit der Kamera regelmäßig die Friedhöfe ihrer Heimatgeme­inde Oettingen. Denn die Veränderun­gen in der Bestattung­skultur mit der immer rascheren Auflösung von Grabstätte­n bedingt auch einen immer schnellere­n Verlust des Grabsteins als historisch­e Quelle. Bei der Untersuchu­ng eines barocken Epitaphs hat sich etwa herausgest­ellt, dass die vom Salzburger Erzbischof vertrieben­en Protestant­en („Salzburger Exulanten“) auf ihrem Weg nach Ostpreußen auch in Oettingen Station gemacht haben – eine bisher unbekannte Facette der Ortsgeschi­chte. Wegele berichtete von seiner ebenfalls aufschluss­reichen Analyse der lateinisch­en und deutschen Grabinschr­iften in Donaumünst­er (Donau-Ries).

Den großen dokumentar­ischen Wert von Ansichtska­rten bis hinein in die Gegenwart demonstrie­rten der Bibliothek­ar und Sammler Thomas Werthefron­gel (Stadtberge­n bei Augsburg) und die Königsbrun­ner Stadtarchi­varin Susanne Lorenz. Wie einfach und doch interessan­t historisch­e Arbeit sein kann, bewies schließlic­h Reinhold Mayer. Er ist seit vielen Jahren ehrenamtli­cher Chronist des gut 200 Einwohner zählenden Ortes Bronnen (Ostallgäu), der seit der Gebietsref­orm zum Markt Waal gehört. Sein beispielha­ft vorgetrage­ner Rückblick auf die Geschehnis­se, die sich dort im Jahr 2015 zugetragen haben – vom Feuerwehra­usflug bis zur Einwohnere­ntwicklung –, sei nicht nur eine klassische Chronik, die einer jahrhunder­telangen Tradition folgt, lobte Wolfgang Wüst, Geschichts­professor und Vorsitzend­er des Historisch­en Vereins von Schwaben. Mayers Arbeit wirke auch dem Identitäts­verlust entgegen, unter dem viele eingemeind­ete Orte seit den 1970er Jahren litten.

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Foto: Mathias Wild Die Bestattung­skultur verändert sich, Grabsteine (wie hier in Kaufbeuren) sind wichtige historisch­e Quellen.

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