Augsburger Allgemeine (Land West)
Aufbruch in eine Welt, die aus der Zeit gefallen ist
Wanderschaft Der Ziemetshauser Zimmerergeselle Jonas Wowra hat sich auf die Walz begeben. Eine Reise ins Ungewisse
Ziemetshausen
Der in Ziemetshausen lebende Zimmermann Jonas Wowra hat sich entschieden, für drei Jahre auf die Walz zu gehen. Arbeitskollegen haben ihn dazu inspiriert, draußen in der Welt fremde Menschen kennenzulernen. Seine Erkundigungen über das Wandergesellenleben führten ihn zu einem „Altgesellen“, der bereit war, ihn in diese etwas aus der Zeit gefallen anmutende Welt einzuführen und zu begleiten. Der Mentor informierte andere wandernde Gesellen über das Vorhaben des Ziemetshausers. Gar nicht so einfach, da die Gesellen weder über Handy noch Internet verfügen und sich quasi per „Buschfunk“austauschen. Nachdem Startort und Startdatum von Jonas publik gewesen waren, machten sich etwa drei Dutzend Wandergesellen auf den Weg an die Zusam, um bei seiner Verabschiedung von Familie und Heimatort dabei zu sein.
Im Webereimuseum schlug die bunte Wanderschar – überwiegend Zimmerleute, aber auch Schreiner, Steinmetze, ein Stuckateur, Bäcker und Konditoren, ein Landwirt, ein Buchbinder, eine Schneiderin, eine Goldschmiedin und auch eine Gärtnerin – in ihrer Gesellentracht ein kostenfreies Lager auf. Am Tag des Treffens hatte sich eine betuliche Ruhe über das Webereimuseum gelegt. Während eine der jungen Gesellinnen eine selbst gekochte Zwiebelsuppe löffelte, stopfte einer der Zimmermänner seine Socken, ein anderer wichste die Stiefel. Einige nutzten die Zeit für ein kleines Schläfchen. Aus einem Zimmer drangen alte Wanderlieder.
Die jungen Leute stammen aus der ganzen Republik, aber auch aus Vorarlberg kamen sie per Anhalter nach Ziemetshausen. Die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist ihnen untersagt, ebenso bezahlte Übernachtung in Gaststätten oder Hotels. Dazu hätten sie auch das Geld nicht. Nur vorübergehend stellen sie sich in den Dienst eines Meisters, um sich den Lebensunterhalt zu sichern.
Der Mentor für Neuanfänger bei den Wandergesellen wies den wanderwilligen Ziemetshauser Zimmermann auf die Riten während der Wanderschaft hin. Eine Grundregel besteht darin, die Bannmeile, das heißt, ein Gebiet im Abstand von mindestens 50 Kilometern zum Heimatwohnort für einen Zeitraum von drei Jahren und einem Tag zu meiden. Ansonsten kann er sich auf Wanderschaft frei bewegen. Der sich neu auf die Walz Begebende wird auch darin unterwiesen, wie man bei einem Meister vorspricht, um für einen vorübergehenden Zeitraum Arbeit und Lohn zu bekommen. Dies und viele andere Begebenheiten und Ereignisse werden im Wanderbuch – eine Art Tagebuch, das jeder mit sich führen muss – eingetragen.
Für den vergangenen Montagvormittag notierte sich Jonas Wowra seinen Abschied von Ziemetshausen in sein Wanderbuch. Seine künftigen Kameraden begleiteten ihn dorthin, Bürgermeister Anton Birle empfing die komplette Mannschaft vor dem Rathaus und verabschiedete schließlich den jungen Mitbürger mit allen guten Wünschen aus seinem Heimatort. Anschließend machte sich die Truppe wieder auf den Weg. Da Jonas zunächst in südlicher Richtung in wärmere Gefilde wandern will, begleiteten ihn seine Kollegen zum Ortsausgang Richtung Muttershofen. Dort musste er, dem Brauch entsprechend, beim Verlassen von Ziemetshausen zunächst mit einem Stamperl Schnaps mit den anderen zusammen den Abschied von der Heimat begießen und auf eine gesunde und glückliche Wiederkehr trinken. Die Flasche mit dem Restinhalt musste er dann am Ortsschild in einer Tiefe von mindestens achtzig Zentimetern oder einer (Wander-)Stocklänge vergraben. Eine zweite Flasche kam hinzu, darin befinden sich alle guten Wünsche der Familie und seiner bisherigen und neuen Freunde.
Wenn er wieder nach Hause kommt, nach drei Jahren und mindestens einem Tag, muss er die Flasche dann ausgraben und seine Rückkehr „begießen“. Danach galt es, das Ortsschild, ohne einen Blick zurückwerfend, hinter sich zu lassen. Dazu hievte ihn sein Altgeselle nach oben, Jonas musste das Schild überqueren und wurde dann von den anderen Wandergesellen aufgefangen und durchgereicht. Jetzt erst konnte das Abenteuer mit der Walz beginnen.
Und so zogen alle drei Dutzend Wandergesellen durch Muttershofen und in Richtung Süden. Getreu ihrem Leitspruch: Die Heimat des Abenteuers ist die Fremde, Mut steht am Anfang, Glück am Ende. Ein weiterer Brauch der Wandergesellen dürfte auch Jonas möglicherweise nicht ganz leichtfallen – nach der Verabschiedung unterliegt er einer 90-tägigen Schweigepflicht gegenüber seinem Elternhaus. Erst an Ostern wird die Familie erfahren, wohin es den Sohn verschlagen hat.