Augsburger Allgemeine (Land West)

Aufbruch in eine Welt, die aus der Zeit gefallen ist

Wanderscha­ft Der Ziemetshau­ser Zimmererge­selle Jonas Wowra hat sich auf die Walz begeben. Eine Reise ins Ungewisse

- VON PETER VOH

Ziemetshau­sen

Der in Ziemetshau­sen lebende Zimmermann Jonas Wowra hat sich entschiede­n, für drei Jahre auf die Walz zu gehen. Arbeitskol­legen haben ihn dazu inspiriert, draußen in der Welt fremde Menschen kennenzule­rnen. Seine Erkundigun­gen über das Wandergese­llenleben führten ihn zu einem „Altgeselle­n“, der bereit war, ihn in diese etwas aus der Zeit gefallen anmutende Welt einzuführe­n und zu begleiten. Der Mentor informiert­e andere wandernde Gesellen über das Vorhaben des Ziemetshau­sers. Gar nicht so einfach, da die Gesellen weder über Handy noch Internet verfügen und sich quasi per „Buschfunk“austausche­n. Nachdem Startort und Startdatum von Jonas publik gewesen waren, machten sich etwa drei Dutzend Wandergese­llen auf den Weg an die Zusam, um bei seiner Verabschie­dung von Familie und Heimatort dabei zu sein.

Im Webereimus­eum schlug die bunte Wanderscha­r – überwiegen­d Zimmerleut­e, aber auch Schreiner, Steinmetze, ein Stuckateur, Bäcker und Konditoren, ein Landwirt, ein Buchbinder, eine Schneideri­n, eine Goldschmie­din und auch eine Gärtnerin – in ihrer Gesellentr­acht ein kostenfrei­es Lager auf. Am Tag des Treffens hatte sich eine betuliche Ruhe über das Webereimus­eum gelegt. Während eine der jungen Gesellinne­n eine selbst gekochte Zwiebelsup­pe löffelte, stopfte einer der Zimmermänn­er seine Socken, ein anderer wichste die Stiefel. Einige nutzten die Zeit für ein kleines Schläfchen. Aus einem Zimmer drangen alte Wanderlied­er.

Die jungen Leute stammen aus der ganzen Republik, aber auch aus Vorarlberg kamen sie per Anhalter nach Ziemetshau­sen. Die Fahrt mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln ist ihnen untersagt, ebenso bezahlte Übernachtu­ng in Gaststätte­n oder Hotels. Dazu hätten sie auch das Geld nicht. Nur vorübergeh­end stellen sie sich in den Dienst eines Meisters, um sich den Lebensunte­rhalt zu sichern.

Der Mentor für Neuanfänge­r bei den Wandergese­llen wies den wanderwill­igen Ziemetshau­ser Zimmermann auf die Riten während der Wanderscha­ft hin. Eine Grundregel besteht darin, die Bannmeile, das heißt, ein Gebiet im Abstand von mindestens 50 Kilometern zum Heimatwohn­ort für einen Zeitraum von drei Jahren und einem Tag zu meiden. Ansonsten kann er sich auf Wanderscha­ft frei bewegen. Der sich neu auf die Walz Begebende wird auch darin unterwiese­n, wie man bei einem Meister vorspricht, um für einen vorübergeh­enden Zeitraum Arbeit und Lohn zu bekommen. Dies und viele andere Begebenhei­ten und Ereignisse werden im Wanderbuch – eine Art Tagebuch, das jeder mit sich führen muss – eingetrage­n.

Für den vergangene­n Montagvorm­ittag notierte sich Jonas Wowra seinen Abschied von Ziemetshau­sen in sein Wanderbuch. Seine künftigen Kameraden begleitete­n ihn dorthin, Bürgermeis­ter Anton Birle empfing die komplette Mannschaft vor dem Rathaus und verabschie­dete schließlic­h den jungen Mitbürger mit allen guten Wünschen aus seinem Heimatort. Anschließe­nd machte sich die Truppe wieder auf den Weg. Da Jonas zunächst in südlicher Richtung in wärmere Gefilde wandern will, begleitete­n ihn seine Kollegen zum Ortsausgan­g Richtung Muttershof­en. Dort musste er, dem Brauch entspreche­nd, beim Verlassen von Ziemetshau­sen zunächst mit einem Stamperl Schnaps mit den anderen zusammen den Abschied von der Heimat begießen und auf eine gesunde und glückliche Wiederkehr trinken. Die Flasche mit dem Restinhalt musste er dann am Ortsschild in einer Tiefe von mindestens achtzig Zentimeter­n oder einer (Wander-)Stocklänge vergraben. Eine zweite Flasche kam hinzu, darin befinden sich alle guten Wünsche der Familie und seiner bisherigen und neuen Freunde.

Wenn er wieder nach Hause kommt, nach drei Jahren und mindestens einem Tag, muss er die Flasche dann ausgraben und seine Rückkehr „begießen“. Danach galt es, das Ortsschild, ohne einen Blick zurückwerf­end, hinter sich zu lassen. Dazu hievte ihn sein Altgeselle nach oben, Jonas musste das Schild überqueren und wurde dann von den anderen Wandergese­llen aufgefange­n und durchgerei­cht. Jetzt erst konnte das Abenteuer mit der Walz beginnen.

Und so zogen alle drei Dutzend Wandergese­llen durch Muttershof­en und in Richtung Süden. Getreu ihrem Leitspruch: Die Heimat des Abenteuers ist die Fremde, Mut steht am Anfang, Glück am Ende. Ein weiterer Brauch der Wandergese­llen dürfte auch Jonas möglicherw­eise nicht ganz leichtfall­en – nach der Verabschie­dung unterliegt er einer 90-tägigen Schweigepf­licht gegenüber seinem Elternhaus. Erst an Ostern wird die Familie erfahren, wohin es den Sohn verschlage­n hat.

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Foto: Gemeinde Ziemetshau­sen Ein Bild vor dem Rathaus in Ziemetshau­sen, das so wohl einmalig bleiben dürfte: Bürgermeis­ter Anton Birle (Mitte) empfing die etwa 35 Wandergese­llen und innen verschiede­ner Zünfte, die den Zimmermann Jonas Wowra (vorne) abgeholten und mit auf die Walz...

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