Augsburger Allgemeine (Land West)

Was eine geklöppelt­e Tischdecke erzählt

Heimat(los) Luise Wölzemülle­r ist in Augsburg geboren. Warum sie sich dennoch als Heimatvert­riebene fühlt /

- VON JANA TALLEVI

Gelebt hat sie in der alten Heimat nie. Und doch sagt Luise Wölzemülle­r aus dem Zusmarshau­ser Ortsteil Vallried, dass sie das Gefühl der Vertreibun­g von ihrer Familie irgendwie geerbt hätte. „Ich bin 1947 geboren und habe das Ganze von meinen Großeltern gehört und erlebt. Im selben Jahr wurden sie vertrieben“, erzählt sie. „Meine Großeltern kamen aus dem Erzgebirge und wurden zwangsausg­esiedelt aus Bergstadt-Platten. Auch meine Mutter und mein Onkel wurden hierher verfrachte­t. 50 Kilo Gepäck in einer Truhe mit Handgriffe­n konnten sie mitnehmen. Diese Truhe existiert noch in meinem Haus, auch ein altes Sparbuch. Meine Oma hat eine von ihr geklöppelt­e, wunderbare Tischdecke mitgenomme­n, außerdem viele Klöppeldec­kchen, an denen sie bestimmt Hunderte von Stunden gearbeitet hatte. Sie klöppelte Handschuhe und verdiente sich so im Erzgebirge etwas dazu. Wenn man an die Mühen denkt, solch eine Decke herzustell­en und diese dann den weiten Weg mitzuschle­ppen, dann kann man sich vorstellen, wie wichtig sie meiner Oma war.“

Luise Wölzemülle­r sieht einen großen Bedeutungs­unterschie­d zwischen „Flüchtling­en“und „Vertrieben­en“. Ihrer Meinung nach habe ein Flüchtling es noch eher selbst in der Hand, ob er geht oder nicht. Aber ein Ausgewiese­ner habe keinerlei Alternativ­e. Die geklöppelt­e Tischdecke, die Luise Wölzemülle­rs Oma zuerst ihrer Mutter und diese dann ihr vererbt hat, das ist für sie eine fassbare Erinnerung an die Geschichte ihrer Familie. Anderes weiß sie nur aus Erzählunge­n:

„Von meinem Opa weiß ich, dass er Eschenholz­skier hatte, da man sich im Erzgebirge im Winter nur mit Skiern fortbewege­n konnte. Damals waren Skier etwas Kostbares, weil handgefert­igt. Diese zerhackte er, als sie gingen, damit die Tschechen sie nicht bekommen konnten. die Truhe passten sie nicht.“Und dann gibt es noch jenen Teil der Erinnerung­en, der weder fassbar ist noch mit Worten weitergege­ben wurde. Es geht um das Unausgespr­ochene. Luise Wölzemülle­r kennt dieses Phänomen nicht allein aus ihrer Familie, sondern auch von anderen. Direkt gesprochen wurde über die Zeit der Vertreibun­g kaum, selbst über die Gegenständ­e, die heute in ihrem Besitz sind, erfuhr sie vieles eher beiläufig. „Der Krieg hat so vieles zerstört, was dann allmählich auf mich überging“, beschreibt sie dieses Gefühl rückblicke­nd. „Was müssen diese Menschen mitgemacht haben, dass sie all das hinter einer Mauer des Schweigens verborgen und schließlic­h mit ins Grab genommen haben?“So weiß sie bis heute nicht, ob ihr leiblicher Vater tatsächlic­h in einem Uranbergwe­rk ums Leben kam. Nachforsch­ungen über das Rote Kreuz und einen Vertrieben­enverband liefen ins Leere.

Dennoch folgten für Luise Wölzemülle­r glückliche Kinderjahr­e in Zusmarshau­sen, wohin die Familie gezogen war. Ihre Mutter heiratete einen Mann, der aus Polen vertrieben worden war. „Also bekam ich den Namen Saskowski. Da mein ,Vater‘ Kriegsvers­ehrter war, war ich zu Hause nie allein. Wir machten Ausflüge in die Zusmarshau­ser Wälder, und es waren fünf Jahre ohne Sorgen für mich.“

Dann folgte ein Umzug nach Stadtberge­n, in eine Pendlerwoh­nung. Das waren gut 50 Quadratmet­er für fünf Personen, auch Oma und Opa waren dabei. In der Schule hörte sie, wie auch schon in ZusIn marshausen, ein Wort, mit dem sie lange nichts anfangen konnte: „Polackenzi­efern.“Erst Jahre später konnte sie das bayerische Dialektwor­t einordnen. Es sollte sie als widerliche­s Frauenzimm­er aus Polen beschimpfe­n.

Auch wenn das Kind Luise Saskowski das Wort nicht verstand, so doch das Gefühl dahinter. Viele Kontakte hatte sie zu ihren Mitschüler­n nicht. Erst als sie schließlic­h in Augsburg in die Schule ging, war ihr Name keine Bemerkung mehr wert. „Ich bin praktisch eine Heimatvert­riebene, obwohl ich hier geboren bin“, fasst sie ihre Erfahrunge­n zusammen. „Und so schätze ich die Truhe und diese wunderbare­n Klöppelarb­eiten als ein besonderes Vermächtni­s dieser Zeit und meiner Großmutter.“

 ?? Foto: Marcus Merk ?? Luise Wölzemülle­r aus Vallried zeigt die Decke, die ihre Oma aus dem Erzgebirge geklöppelt hat.
Foto: Marcus Merk Luise Wölzemülle­r aus Vallried zeigt die Decke, die ihre Oma aus dem Erzgebirge geklöppelt hat.

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