Augsburger Allgemeine (Land West)
Die Spuren von Gontia
Geschichte Dort, wo heute die Stadt Günzburg liegt, lebte einst ein buntes Völkergemisch. Für die Archäologen sind die 1800 Gräber aus dieser Zeit ein Schatz, der eine Fülle von Informationen über das Leben damals bietet
Der irische Schriftsteller Oscar Wilde hat die Erkenntnis hinterlassen: „Wir sind, wer wir waren.“Wer waren die Menschen, die um das Jahr 100 nach Christus im heutigen Günzburg, dem damals römischen Gontia, gelebt haben? Welche Spuren haben sie bis heute hinterlassen? Diesen Fragen gehen Wissenschaftler im Rahmen eines großen Forschungsprojekts nach. Einer dieser Experten ist der Archäologe und Historiker Martin Grünewald. Bei einem Vortrag von Volkshochschule, Stadt und Historischem Verein berichtete er im gut besuchten Forum am Hofgarten über erste Zwischenergebnisse. Ein Fazit: „In Gontia lebte ein buntes Völkergemisch. Es war ein Schmelztiegel.“Die Menschen waren aus Süd- und Westeuropa, aus Syrien und Nordafrika gekommen. Irgendwie wiederholt sich Geschichte doch. „Günzburg ist einzigartig“, stieg Grünewald in seinen Vortrag ein. Zumindest aus archäologischer Sicht. Denn entlang der Ulmer Straße sind mehr als 1800 Gräber gefunden worden. Günzburg darf sich deshalb des größten, nach modernen Methoden erforschten, rein römischen Gräberfeldes nördlich der Alpen rühmen. „Ein Schatz“, betonte Grünewald.
Die Römer hatten ihren Toten eine Fülle von Beigaben ins Grab gelegt. Münzen, Öllämpchen, Spiegel, Gläser, Töpferwaren oder Spielzeug. Die in Günzburg geborgenen Funde sind nach Qualität und Quantität vielfach einzigartig – ein Grund, weshalb die Stadt in ein Großprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) eingebunden wurde. Dabei geht es vor allem um Migration und Zuwanderung. Ein Thema, das damals so aktuell war wie heute. Gegen Ende des 1. Jahrhunderts nach Christus war in Gontia die Militäreinheit „Ala Secunda Flavia pia fidelis milliaria“stationiert. Sie umfasste etwa 1000 Mann. In ihrem Gefolge waren rund 2000 Zivilisten gekommen – Frauen und Kinder, Handwerker, Händler und Landwirte. Das Mehrfache der einheimischen Bevölkerung, über die allerdings kaum etwas bekannt ist. „Gontia war damals die größte und wichtigste Grenzstation im heutigen Bayern“, erläuterte Grünewald.
Präfekt, also Befehlshaber, der Truppe war Aulus Pomponius Augusinus. Die Stationen seiner Militärlaufbahn stehen stellvertretend für die „massenhafte Migration und hohe Mobilität“jener Zeit, sagte Grünewald. Er war in Nordafrika, im Nahen Osten, in Griechenland, in Dakien, dem heutigen Rumänien, und eben in Gontia.
Die Günzburger Grabfunde sind ein Indiz dafür, dass auch viele der Soldaten und Zivilisten aus allen Teilen des römischen Reiches nach Gontia gekommen waren. Aus Spanien, Gallien, Britannien, Österreich und Italien, aber auch aus Nordafrika, Syrien und anderen Provinzen im Nahen Osten. „Vielleicht hilft dieser Blick in die Geschichte, die heutigen Ereignisse besser zu verstehen“, so der Referent. Die Forschungsarbeiten sind längst noch nicht abgeschlossen. Die Grabbeigaben sind nur ein Aspekt. Mithilfe der Strontiumisotopie untersuchen die Wissenschaftler Boden, Wasser und Pflanzen der möglichen Herkunftsregionen der Menschen in Gontia. Untersucht werden auch Knochen und Zähne der Toten. So lässt sich ermitteln, wo die Menschen aufgewachsen und wohin sie im Laufe ihres Lebens gewandert sind. „Es wird noch spannend“, fasste Martin Grünewald zusammen. Volkshochschule und Historischer Verein, erklärte Vhs-Leiterin Petra Demmel, wollen künftig im Rahmen eines „Günzburger Geschichtsforums“regelmäßig historische Vorträge bieten. Am 6. April spricht der Günzburger Jurist Martin Lipp darüber, dass das deutsche Recht in hohem Maße auf dem römischen Recht basiert. Wir sind eben, wer wir waren.