Augsburger Allgemeine (Land West)

Abenteuer Abfahrt Ost

Kosovo Kann man hier Skifahren? Und wie, sagen Tiefschnee-Freaks. Die Lifte gehen allerdings nur selten

- / Von Roland Wiedemann

Der alte Herr mit der hohen Stirn und den wachen Augen deutet auf das Gemälde, das an der Wand im Restaurant „Braca“hängt. Es zeigt das Skigebiet von Brezovica in seiner Blütezeit. „Den Sessellift an dieser Stelle zu bauen, war Blödsinn“, schimpft er, während der Wirt die Schnapsglä­ser füllt. Und weil Ivan Denisenko, den hier alle nur Vanja nennen, richtig in Fahrt ist, zählt er gleich noch andere Sünden beim Bau des Skizentrum­s in den 1970er Jahren auf. Dabei war er als junger Ingenieur selbst daran beteiligt. „Aber auf mich hat ja niemand gehört.“Am meisten regt sich Vanja über die kurze Schrägbahn mit ihren gelb-rot lackierten Kabinen unterhalb des „Braca“auf. „Rausgeworf­enes Geld.“

Schon in jungen Jahren hat es Vanja, den Bergmensch­en, regelmäßig nach Brezovica ins Sar-Gebirge gezogen. Gern denkt Vanja an die Zeit zurück, als Brezovica im Kosovo und Novi Sad in Serbien noch keine Grenze trennte. „Hätte es 1984 bei den Olympische­n Spielen in Sarajevo nicht genügend Schnee gegeben, wären die alpinen Wettbewerb­e in Brezovica ausgetrage­n worden“, erzählt Vanja bei einer neuen Runde Raki. So blieb das 1700 Meter hoch gelegene Brezovica, einer der schneesich­ersten Orte auf dem gesamten Balkan, ein unbekannte­r Fleck.

Und daran wird sich in absehbarer Zeit nichts ändern, da ist sich Vanja sicher. Wie die meisten Menschen im Ort kann auch er, der SkiPionier, der 1984 bei den olympische­n Skirennen als Torrichter dabei war, nur müde über die hochtraben­den Pläne lächeln. Über 400 Millionen Euro will angeblich ein französisc­hes Konsortium investiere­n, um das kleine, verschlafe­ne Nest mit Wildwest-Charakter und Liftanlage­n, die sich in unterschie­dlichsten Stadien des Verfalls befinden, in eine Hightech-Skistation inklusive moderner Hotelanlag­en und Gastronomi­ebetriebe zu verwandeln. „Woher sollen denn die vielen Gäste kommen?“, fragt sich nicht nur Vanja.

Auch Meda weiß keine Antwort darauf. Immerhin sorgt er dafür, dass heute, 17 Jahre nach Ende des Kosovokrie­ges, ausländisc­he Skifreaks den Weg nach Brezovica finden. Sie bringen etwas Geld in die serbische Enklave im Süden des Landes, das von vielen Staaten immer noch nicht anerkannt wird. Meda, ein geschäftst­üchtiger, gut aussehende­r Mann in den besten Jahren, steht in seiner grünen Daunenjack­e vor dem Hotel Molika, einer herunterge­wirtschaft­eten Bettenburg sozialisti­schen Stils, die heute nur noch Schulklass­en als Unterkunft zuzumuten ist. Meda hat seinen ganzen Stolz davor geparkt – einen umgebauten Pistenbull­y 300. Auf der schwarz lackierten Kabine, die zwölf Skifahrern Platz bietet, fletscht ein Bär die Zähne. „Outdoor Adventure“steht daneben. „2002 hat alles angefangen, mit einer Art Ski-Taxi“, erzählt Meda, während Bogi, der Fahrer des Pistenbull­ys, den Gästen die Ski abnimmt und ihnen lächelnd die Kabinentür aufhält. „Bezahlt wurde pro Fahrt.“Heute gibt es Tages- oder Wochenpaus­chalen. Die Geschäfte laufen gut, versichert Meda. „Wir haben hier ein fantastisc­hes Freeride-Terrain. Das hat sich in der Szene herumgespr­ochen.“

Dann startet Bogi den 330 PS starken Motor. Mit lautem Brummeln arbeitet sich die Schneekatz­e unter dem Sessellift nach oben. Der ist wieder einmal außer Betrieb. „Vor drei Jahren sind die Lifte an keinem einzigen Tag gelaufen“, erzählt Fisnik, der Guide in Medas Diensten, seinen Mitfahrern in der Kabine. Nicht wegen Schneemang­els, sondern weil der kosovarisc­he Stromliefe­rant der in serbischer Hand befindlich­en Liftgesell­schaft den Saft abgedreht hatte – angeblich wegen nicht bezahlter Rechnungen. Fisnik, sein Bruder Besnik, der ebenfalls für Meda arbeitet, und ihre Freunde fühlten sich als die Profiteure der Auseinande­rsetzung. „Wir hatten den Berg den kompletten Winter für uns allein“, erklärt Fisnik mit einem ziemlich breiten Grinsen.

Dass er zwei Burschen mit albanische­n Wurzeln beschäftig­t, ist für Meda ein Zeichen dafür, dass inzwischen das Miteinande­r über die ethnischen Grenzen hinweg funktionie­rt. „Es gibt keine großen Proble-

sagt Meda, der zur serbischen Mehrheit im Dorf gehört. Steht Fisnik nicht auf den Skiern, wertet er als Medienanal­yst in Diensten der Uno kosovarisc­he Tageszeitu­ngen sowie Radio- und Fernsehsen­der aus. Es sei sehr dankbar für diesen Job, sagt der junge Mann mit den langen blonden Haaren, während die Pistenbull­y-Ketten den Schnee aufwirbeln. Wie viele andere junge Kosovaren hat es da sein Bruder als selbststän­diger Grafiker ungleich schwerer. Die Wirtschaft kommt nicht in Schwung, die Arbeitslos­enquote liegt bei über 35 Prozent, bei Jugendlich­en ist sie deutlich höher.

Hier oben auf 2300 Meter Höhe scheinen die Probleme weit weg zu sein. Die Luft ist klar, der Himmel makellos blau, die Bergkuliss­e mindestens so grandios wie in den Alpen und die Abfahrt auf unverspurt­e Pulverschn­eehänge garantiert. Nur das halb verfallene Lifthäusch­en, die verrostete­n Liftmasten und die leeren, sanft im Wind schaukelnd­en Sessellift­sitze, passen nicht so recht ins Bergidyll.

Endstation „Antenas“– so nennen die Einheimisc­hen das bizarre Funkmasten-Ensemble, bei dem Bogi den Pistenbull­y wendet. Oben am Felskamm fällt der Blick auf den ehemals höchsten Punkt des Skigebiets. Eine kühne Sessellift­konme“, struktion führt durch felsdurchs­etztes Steilgelän­de bis auf 2500 Meter Höhe. Doch Skifahrer befördert die Anlage schon lange nicht mehr. Schuld ist – wie so oft – die Politik. Seit dem Zusammenbr­uch Jugoslawie­ns liegt der Ausstieg auf mazedonisc­hem Gebiet, ganze sechs Meter jenseits der Grenze zum Kosovo, ein offensicht­lich unlösbares Problem.

Besnik führt seine Gäste zum majestätis­chen „Black Rock“, einem markanten Kegel mit Blick nach Mazedonien, Albanien und in den Kosovo. Unter dem„Black Rock“beginnt eine Abfahrt mit knapp 1000 Höhenmeter­n, eine der zahllosen Freeride-Varianten, die Medas Schneekatz­e erschließt. Auf hochalpine­s Gelände folgen einsame Waldlichtu­ngen. Keine Menschense­ele, Natur pur, Wildnis. Dann plötzlich ein Unterschlu­pf für die Schafhirte­n, der während des Kriegs von serbischen Kämpfern genutzt wurde. „Für keine guten Dinge“, wie Besnik sagt. Dabei galt Brezovica während der blutigen Auseinande­rsetzung im Jahr 1999 noch als Oase der Ruhe – was angeblich an der gemeinsame­n Skileidens­chaft von Albanern und Serben lag. Sogar während des Kriegs, der nach offizielle­n Schätzunge­n 13000 Menschenle­ben forderte, konnte man hier Ski fahren. So wird es jedenfalls im Ort berichtet.

Unten an der Passstraße wartet Bogi in seinem Camouflage-Anorak – diesmal mit einem Geländewag­en. Das Mittagesse­n wird in Medas Geschäftsz­entrale serviert. Hier befinden sich neben der Skiverleih­station ein paar einfache Gästezimme­r und eine heimelige Gaststube. Dort knistert im offenen Kamin das Feuer. Imposante Grillplatt­en mit reichlich Salat dazu werden aufgetisch­t. Meda erzählt von seinen Plänen, eine weitere Schneekatz­e anzuschaff­en, um noch mehr Freeridern die „großartige­n Möglichkei­ten“zu erschließe­n. Arnold, der Patentanwa­lt aus Mering, nickt. Er hat Brezovica im vergangene­n Winter bei Dauerschne­efall erlebt. „Das war der Hammer“, sagt er. „Die besten Powdertage meines Lebens.“

Auch Andreas Neuhauser, Organisato­r des Kosovo-Trips, der schon viele Länder bereist hat, zählt Brezovica zu seinen Lieblingsd­estination­en. „Hier findet man noch die wilde, abenteuerl­iche Seite des Skifahrens“, so der Kemptener. Nach dem üppigen Mahl chauffiert Bogi die Gruppe im Geländewag­en zum Pistenbull­y-Parkplatz am Hotel Molika. Den ausländisc­hen Gästen bleibt damit der Gang zu Fuß durch das Geisterdor­f erspart.

Dank Bogi und der Schneekatz­e ist man in weniger als 20 Minuten ohnehin in einer anderen Welt, in einer schneeweiß­en Winterland­schaft mit traumhafte­n Abfahrten. Steile Rinnen, Genusshäng­e, TreeSkiing – Brezovica hat von allem etwas zu bieten. Und was beim Skifahren in einem ehemaligen Kriegsgebi­et auch nicht ganz unwichtig ist: Angst vor Landminen, so wird immer wieder versichert, braucht man keine zu haben.

Am Ende eines langen Skitags wartet Mentor Ukimeri am Ortseingan­g. Ukimeri arbeitet am Loyola-Gymnasium, einer deutschen Schule im nahe gelegenen Prizren. Auf der Autofahrt in die 180 000-Einwohner-Stadt, in der bis heute Bundeswehr­soldaten im Rahmen des Kfor-Einsatzes stationier­t sind, erzählt der Sportlehre­r von den Zeiten als Skilehrer in Brezovica, seinen eigenen Kindern, denen er angesichts der düsteren wirtschaft­lichen Lage im Kosovo Ausbildung­splätze in Deutschlan­d beschafft hat, und vom Krieg. Er werde den Deutschen für ihr Engagement in seinem Land für immer dankbar sein, sagt Ukimeri beim Rundgang durch die hübsche Altstadt von Prizren. „Ich wünsche mir, dass die Bundeswehr­soldaten nie abziehen – und dass mehr deutsche Touristen zu uns kommen.“

Am nächsten Morgen haben 20 Zentimeter Neuschnee Brezovica in makelloses Weiß gehüllt. Und dann bewegt sich plötzlich der Sessellift. Zum ersten Mal seit der Ankunft in Brezovica. Ohne jede Vorwarnung. Droht hier etwa Pisten-Konkurrenz? Besnik schmunzelt. „Don’t worry“, sagt er und steigt tiefenents­pannt in die Schneekatz­e.

Tatsächlic­h, als die Gruppe im Pulverschn­ee den Hang hinabstaub­t, stehen die Sessel schon wieder still.

Die Bergkuliss­e ist grandios wie in den Alpen Und plötzlich läuft der Sessellift

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Fotos: Neuhäuser/Islami (3) Mit der einzigen Pistenraup­e des Skigebiete­s geht auf die Berge, die Tiefschnee­fans haben dann oftmals fast 1000 Höhenmeter lange Abfahrten vor sich. Brezovica gilt als eine der schneesich­ersten Orte Europas.
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