Augsburger Allgemeine (Land West)

Wohnen im Schützenha­us

Heimat(los) Der Vater von Reinhard Pösel aus Langweid suchte nach der Vertreibun­g Wohnraum für seine Familie. Den fand er schließlic­h in einem kaputten Vereinshei­m. Eine Verabredun­g mit der Verwaltung half weiter / Serie (10)

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Die Gemeinde Langweid sei ihm zur liebens- und lebenswert­en Heimat geworden, sagt Reinhard Pösel heute. Dabei stammt der 1944 Geborene eigentlich aus Neudorf-Wies, Hausnummer 55, im Kreis Mährisch-Schönberg (heute: Sumperk). Diese mittlere Kreisstadt liegt in Nord-Mähren, etwa auf halbem Wege (Luftlinie) zwischen Prag und Krakau. Anfang Juni 1946 folgte für Familie Pösel die Ausweisung – wie für so viele andere deutschstä­mmige Familien in dieser Zeit auch. Schlimmes und für die Familie Aufregende­s hatte vor allem Richard Pösels Vater in den Monaten zuvor erlebt:

„Mein Vater, Richard Pösel, war als gelernter Maurer während des Krieges dienstverp­flichtet bei der Organisati­on Todt, einer paramilitä­rischen Bautruppe. Er geriet bei Kriegsende Anfang Mai 1945 auf der Halbinsel Hela (Danziger Bucht) in russische Kriegsgefa­ngenschaft, wurde etwa Ende August 1945 aus gesundheit­lichen Gründen entlassen und schlug sich Richtung Neudorf zu seiner Familie durch. Fünf Kilometer vor der Haustüre wurde er von tschechisc­her Miliz aufgegriff­en und wegen illegaler Überschrei­tung der inzwischen tschechisc­hen Staatsgren­ze im Konzentrat­ionslager Zlin, das in den ehemaligen Bata-Schuhwerke­n eingericht­et war, inhaftiert. Nach neun Monaten wurde er Ende Mai 1946 zur Ausweisung nach Hause (Neudorf) entlassen.“

Dann kam die Vertreibun­g. Der kleine Reinhard war damals erst eindreivie­rtel Jahre alt, seine Schwester Anni immerhin schon zehn. Neben Vater und Mutter war auch noch Großmutter Anna Pösel, Jahrgang 1874, dabei. Für die alte und gebrechlic­he, außerdem schwer zuckerkran­ke Frau war die Reise in Bodenmais, dem ersten Halt auf bayerische­m Boden, zu Ende. Sie wurde von einem Rotkreuz-Arzt zurückgeha­lten, weil sie den Weitertran­sport nicht überlebt hätte. Die übrige Familie wurde in kurzen Etappen über Augsburg, wo sie in der Georg-Schule unterkam, über Monheim nach Harburg geschickt. Reinhard Pösel vermutet, dass dies der Transport vom 21. Juni 1946 aus Mährisch-Schönberg mit 1214 Personen war.

„Die Einquartie­rung war, zusammen mit vielen anderen Vertrieben­en, in der Burg Harburg in einem Saal, dessen Boden durch Kreidestri­che in Parzellen von etwa drei mal fünf Metern pro Familie eingeteilt war. Mein Vater wollte sich und seine Familie möglichst bald aus dem Massenquar­tier befreien und durchstrei­fte die ganze Stadt auf der Suche nach Wohnraum. Er dachte dabei auch an seine kranke Mutter, die wir in Bodenmais zurücklass­en mussten. Schließlic­h entdeckte er das leer stehende und teilweise ausgeplünd­erte Schießhaus (Schützenhe­im). Die Läden zum Garten und die Fensterstö­cke fehlten. Ein Wasseransc­hluss war nicht vorhanden, das Plumpsklo in einem seitlichen Anbau.“

Als Maurer traute sich der Vater von Reinhard Pösel jedoch zu, dass Haus für zwei Familien herrichten zu können, und bewarb sich bei der Stadt Harburg darum. Vorsichtig­erweise behielt er die Örtlichkei­t Schießhaus jedoch für sich, bis ihm der damalige Stadtinspe­ktor per Handschlag versproche­n hatte, wenn immer möglich, sein Vorhaben zu unterstütz­en. Und so kam es, dass Familie Pösel und eine weitere die gastliche Burg verließen und Anfang September 1946 ins Schießhaus zogen. Reinhard Pösel:

„Hier lebten wir bis Mai 1954. Die Wohnverhäl­tnisse waren vor allem anfangs primitiv. Der erste Küchentisc­h war ein Schemel, aus Kistenbret­tchen zusammenge­nagelt, die Sitzgelege­nheit dazu Ziegelstei­ne oder der blanke Fußboden. Der Ofenersatz bestand aus einem Loch im Kamin, davor gemauerten Ziegeln, die mit einer rauen Stahlplatt­e abgedeckt waren. Wasser musste eimerweise von einem Bauernhof, 100 Meter oberhalb am Berg, geholt werden. Die Wohnung bestand aus einer Wohnküche, in der es gerade einmal elektrisch­es Licht gab, dem Elternschl­afzimmer mit Kinderbett (für mich), und einer kleinen Kammer für meine Schwester und die kranke Oma, die Vater aus Bodenmais nachgeholt hatte.

Die Familie war nun zusammen und glücklich in den „eigenen“vier Wänden. Fast jede Woche gab es kleine Fortschrit­te. Der Vater bekam Arbeit bei einer Donauwörth­er Baufirma und half dort, den bombardier­ten Bahnhof wieder aufzubauen. Im Winter war er als Maurer regelmäßig arbeitslos. Deshalb zogen wir im Mai 1954 nach Langweid, denn im nahen Augsburg gab es damals zunehmend auch schon Winterbaus­tellen.“

Und so ist aus Reinhard Pösel schließlic­h selbst ein Langweider geworden: Seit 1969 ist er mit einer waschechte­n Langweider­in verheirate­t.

 ?? Foto: Andreas Lode ?? Reinhard Pösel mit einem Bild der Harburg, wo er mit seiner Familie nach der Vertreibun­g einquartie­rt wurde.
Foto: Andreas Lode Reinhard Pösel mit einem Bild der Harburg, wo er mit seiner Familie nach der Vertreibun­g einquartie­rt wurde.

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