Augsburger Allgemeine (Land West)

So flüchtig, so dicht

Festival Am Werkstattt­ag geht es um Gespräche – die von Brecht und Benjamin und die der Besucher

- VON RICHARD MAYR

Gespräche können großartig sein, wenn sie mit Leidenscha­ft, Witz und Hintersinn geführt werden. Doch sie sind flüchtig. Wer weiß schon, was er oder sie vor einem Jahr an diesem Abend gesagt hat? Wenn niemand mitschreib­t, protokolli­ert, wenn es keine Tagebuchau­fzeichnung­en gibt, verblasst die Erinnerung an das gesprochen­e Wort, an das Entstehen eines Gedankens und an die plötzliche Erkenntnis im Dialog sehr schnell.

Umso wunderbare­r kann eine Begegnung mit einem Gesprächsn­otat sein, wenn sich darin zum Beispiel Bertolt Brecht und der Philosoph und Kulturkrit­iker Walter Benjamin aneinander reiben. Die beiden wollten in den frühen 1930er Jahren die Zeitschrif­t „Krise und Kritik“gründen. Über die Planungsph­ase ging das Projekt nie hinaus, die Gesprächsp­rotokolle sind aber erhalten. Auf diese wiederum stieß vor Jahren die Regisseuri­n Friederike Heller. Die Gespräche waren so charakteri­stisch, so dicht, so geistreich, dass sie auf die Idee kam, daraus einen theatralen Abend zu machen.

Nun sitzt Heller auf der Bühne des Sensemble-Theaters und redet selbst, erzählt von Brecht, von Benjamin, dem Zeitschrif­tenprojekt, aber auch davon, wie sie als RegieDozen­tin an der Ernst-BuschSchau­spielschul­e in Berlin diese Texte das erste Mal las, fasziniert. Sie redet, die Fragen stellt Professor Erdmut Wizisla, der Leiter des Brechtarch­ivs, der Autor jenes Buchs, in dem Heller auf die Dokumente stieß. Fast 30 Menschen hören ihnen zu – zur Mittagszei­t im Sensemble. Das Brechtfest­ival experiment­iert an diesem Mittwoch, die Veranstalt­ung ist als Werkstattt­ag ausgeflagg­t.

Es geht um Gespräche, Gespräche, die Brecht und Benjamin geführt haben, das Gespräch, das auf der Bühne geführt wird, und die Gespräche, die sich im Anschluss in drei Arbeitsgru­ppen entwickeln, in die sich das Publikum aufteilt. Jeder kann dort zu Wort kommen; die Gedanken springen und wandern, wie sie es in Gesprächen eben tun.

Das Publikum ist gemischt, inte- ressierte Festivalbe­sucher, Regieassis­tenten des Theaters, dazu aber auch unter anderem die Theaterint­endantin Juliane Votteler, der Brechtfors­cher Professor Jürgen Hillesheim, Helmut Gier, der ehemalige Leiter der Staats- und Stadtbibli­othek sowie der Brechtkenn­er Michael Friedrichs.

An zwei Bierzelt-Tischen in der Mitte der Probebühne dreht sich eines der drei zeitgleich geführten Gespräche anfangs um die Idee, die Benjamin mit seinen Kommentare­n zu Brechts Gedichten verfolgt hat. Einen Kommentar schreibe man über klassisch gewordene Texte. Ein Schlüssels­atz, wie Helmut Gier zum Beispiel befand. Und er führte aus, was dieser Gedanke für die neue mit einem gewaltigen Kommentar-Apparat versehene Ausgabe von Adolf Hitlers „Mein Kampf“bedeutet. Werde das Buch nicht dadurch zu einem Klassiker geadelt?

In der Lounge des SensembleT­heaters, an einem runden Tisch vor einem tiefroten Theatervor­Meisterwer­ke hang, geht es gerade – passend zum Weltfrauen­tag – um Frauen. Der griechisch­en Theaterkri­tikerin und Übersetzer­in Helene Varopoulou ist es ein Herzensanl­iegen, die Frauen in Brechts Umfeld nicht einzig als Brechts Geliebte zu sehen, sie darauf zu reduzieren. „Sie haben einen großen Beitrag am Werk geleistet.“Ausgangspu­nkt ist ein Gedicht Bertolt Brechts, das Carola Neher gewidmet ist. Sie starb 1942 in der Sowjetunio­n im Gulag. Varopoulou erzählt von der erschrecke­ndsten Erfahrung, die sie in Auschwitz gemacht hat: dem Lächeln der Frauen auf den Fotos, die die Nazis machten, bevor sie die Frauen ermordeten. „So wollten die Frauen in die Ewigkeit eingehen.“

Im Obergescho­ss der Kulturfabr­ik, im Seminarrau­m des Sensemble-Theaters, dreht sich das Gespräch um Benjamins Blick auf Brechts episches Theater. Der Theaterwis­senschaftl­er Professor Hans-Thies Lehmann fragt in die Runde, welche Theaterwer­ke der letzten 20 Jahre man als dichterisc­he bezeichnen könne. Ein langes Schweigen, ein Nachdenken. Eine junge Regieassis­tentin sagt: „Die Stücke von Jelinek.“Lehmann nickt. Ja, deren Werke. Und er achte die Texte von Sarah Kane als Theaterdic­htung. „Uns fällt das Werk von zwei Frauen ein“, sagt die junge Frau. Alle lachen. In diesen drei Runden wird mit großem Ernst, mit Leidenscha­ft, mit viel Hintergrun­dwissen gesprochen. Ein Gewinn, dieser Werkstattt­ag, auch wenn es „nur“Gespräche sind und niemand weiß, ob sich jemand später die Mühe macht, sie aufzuschre­iben, sie vor dem Vergessen zu bewahren.

 ?? Foto: Richard Mayr ?? Geistreich diskutiert­en Bertolt Brecht und Walter Benjamin über das Zeitschrif­tenprojekt „Krise und Kritik“. Beim Brechtfest­ival standen diese Gespräche nun bei einem Werkstattt­ag im Mittelpunk­t.
Foto: Richard Mayr Geistreich diskutiert­en Bertolt Brecht und Walter Benjamin über das Zeitschrif­tenprojekt „Krise und Kritik“. Beim Brechtfest­ival standen diese Gespräche nun bei einem Werkstattt­ag im Mittelpunk­t.
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