Augsburger Allgemeine (Land West)
So flüchtig, so dicht
Festival Am Werkstatttag geht es um Gespräche – die von Brecht und Benjamin und die der Besucher
Gespräche können großartig sein, wenn sie mit Leidenschaft, Witz und Hintersinn geführt werden. Doch sie sind flüchtig. Wer weiß schon, was er oder sie vor einem Jahr an diesem Abend gesagt hat? Wenn niemand mitschreibt, protokolliert, wenn es keine Tagebuchaufzeichnungen gibt, verblasst die Erinnerung an das gesprochene Wort, an das Entstehen eines Gedankens und an die plötzliche Erkenntnis im Dialog sehr schnell.
Umso wunderbarer kann eine Begegnung mit einem Gesprächsnotat sein, wenn sich darin zum Beispiel Bertolt Brecht und der Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin aneinander reiben. Die beiden wollten in den frühen 1930er Jahren die Zeitschrift „Krise und Kritik“gründen. Über die Planungsphase ging das Projekt nie hinaus, die Gesprächsprotokolle sind aber erhalten. Auf diese wiederum stieß vor Jahren die Regisseurin Friederike Heller. Die Gespräche waren so charakteristisch, so dicht, so geistreich, dass sie auf die Idee kam, daraus einen theatralen Abend zu machen.
Nun sitzt Heller auf der Bühne des Sensemble-Theaters und redet selbst, erzählt von Brecht, von Benjamin, dem Zeitschriftenprojekt, aber auch davon, wie sie als RegieDozentin an der Ernst-BuschSchauspielschule in Berlin diese Texte das erste Mal las, fasziniert. Sie redet, die Fragen stellt Professor Erdmut Wizisla, der Leiter des Brechtarchivs, der Autor jenes Buchs, in dem Heller auf die Dokumente stieß. Fast 30 Menschen hören ihnen zu – zur Mittagszeit im Sensemble. Das Brechtfestival experimentiert an diesem Mittwoch, die Veranstaltung ist als Werkstatttag ausgeflaggt.
Es geht um Gespräche, Gespräche, die Brecht und Benjamin geführt haben, das Gespräch, das auf der Bühne geführt wird, und die Gespräche, die sich im Anschluss in drei Arbeitsgruppen entwickeln, in die sich das Publikum aufteilt. Jeder kann dort zu Wort kommen; die Gedanken springen und wandern, wie sie es in Gesprächen eben tun.
Das Publikum ist gemischt, inte- ressierte Festivalbesucher, Regieassistenten des Theaters, dazu aber auch unter anderem die Theaterintendantin Juliane Votteler, der Brechtforscher Professor Jürgen Hillesheim, Helmut Gier, der ehemalige Leiter der Staats- und Stadtbibliothek sowie der Brechtkenner Michael Friedrichs.
An zwei Bierzelt-Tischen in der Mitte der Probebühne dreht sich eines der drei zeitgleich geführten Gespräche anfangs um die Idee, die Benjamin mit seinen Kommentaren zu Brechts Gedichten verfolgt hat. Einen Kommentar schreibe man über klassisch gewordene Texte. Ein Schlüsselsatz, wie Helmut Gier zum Beispiel befand. Und er führte aus, was dieser Gedanke für die neue mit einem gewaltigen Kommentar-Apparat versehene Ausgabe von Adolf Hitlers „Mein Kampf“bedeutet. Werde das Buch nicht dadurch zu einem Klassiker geadelt?
In der Lounge des SensembleTheaters, an einem runden Tisch vor einem tiefroten TheatervorMeisterwerke hang, geht es gerade – passend zum Weltfrauentag – um Frauen. Der griechischen Theaterkritikerin und Übersetzerin Helene Varopoulou ist es ein Herzensanliegen, die Frauen in Brechts Umfeld nicht einzig als Brechts Geliebte zu sehen, sie darauf zu reduzieren. „Sie haben einen großen Beitrag am Werk geleistet.“Ausgangspunkt ist ein Gedicht Bertolt Brechts, das Carola Neher gewidmet ist. Sie starb 1942 in der Sowjetunion im Gulag. Varopoulou erzählt von der erschreckendsten Erfahrung, die sie in Auschwitz gemacht hat: dem Lächeln der Frauen auf den Fotos, die die Nazis machten, bevor sie die Frauen ermordeten. „So wollten die Frauen in die Ewigkeit eingehen.“
Im Obergeschoss der Kulturfabrik, im Seminarraum des Sensemble-Theaters, dreht sich das Gespräch um Benjamins Blick auf Brechts episches Theater. Der Theaterwissenschaftler Professor Hans-Thies Lehmann fragt in die Runde, welche Theaterwerke der letzten 20 Jahre man als dichterische bezeichnen könne. Ein langes Schweigen, ein Nachdenken. Eine junge Regieassistentin sagt: „Die Stücke von Jelinek.“Lehmann nickt. Ja, deren Werke. Und er achte die Texte von Sarah Kane als Theaterdichtung. „Uns fällt das Werk von zwei Frauen ein“, sagt die junge Frau. Alle lachen. In diesen drei Runden wird mit großem Ernst, mit Leidenschaft, mit viel Hintergrundwissen gesprochen. Ein Gewinn, dieser Werkstatttag, auch wenn es „nur“Gespräche sind und niemand weiß, ob sich jemand später die Mühe macht, sie aufzuschreiben, sie vor dem Vergessen zu bewahren.