Augsburger Allgemeine (Land West)

Wie ein Puzzle, das nie endet

Geschichte Familienfo­rscher, Wissenscha­ftler, Heimatfors­cher: Im Augsburger Stadtarchi­v werden sie fündig. Doch dabei geht es um weit mehr als einen möglichst langen Stammbaum

- VON CLAUDIA GRAF

Eine gemeinsame Nacht wurde den jungen Augsburger­n Christina Heffelerin und Leonhardt Lueger 1697 zum Verhängnis. Wegen Beischlafs „im noch ledigen Stand“, in Unehren also, mussten sie zehn beziehungs­weise zwölf Tage im Gefängnis sitzen. Hervor geht das Urteil aus einem sogenannte­n Ledigstand­sstrafbuch. Wenn es für die jungen Eltern – denn die Nacht blieb nicht folgenlos – sicherlich weniger erfreulich war, ist so eine Quelle für Mario Felkl ein „Glücksfall“.

Felkl arbeitet als Diplom-Archivar im Stadtarchi­v Augsburg. Täglich wenden sich an ihn Menschen, um mehr über frühere Generation­en zu erfahren: Privatleut­e, Wissenscha­ftler, Heimatfors­cher oder das Amtsgerich­t, um mit dem Blick ins Archiv Erbschafte­n klären zu können. „Die einen wollen Daten für ihren Stammbaum, die anderen, eher fortgeschr­ittene Familienfo­rscher, möchten mehr über die damaligen Lebensumst­ände und das Zeitgesche­hen erfahren“, sagt Felkl.

Und deshalb sind Unterlagen wie ein Ledigstand­sstrafbuch ein Glücksfall. Eine Quelle, die mehr preisgibt als ein paar Zahlen. Darin wurden laut Felkl vom Stadtgeric­ht Strafen für ledige oder verwitwete Frauen und Männer dokumentie­rt, die sich im 17. und 18. Jahrhunder­t nicht züchtig verhielten. Viele tausend solcher Fälle gab es in Augsburg. Heute sind die Bücher eine kostbare Quelle, da sich darin beispielsw­eise Informatio­nen über uneheliche Kinder finden.

Doch wie kommen Familienfo­rscher an solche Informatio­nen? Tipps für die Recherche hat Felkl nun bei einem Vortrag im Stadtarchi­v gegeben – vor gut gefüllten Reihen. Unter den Zuhörern sitzt Georg Bürzle, den seit Jahren eine Frage umtreibt: Wo kommen all die Bürzles in der Region her? Der 71-Jährige habe bereits herausgefu­nden, dass sein Familienna­me deutschlan­dweit sehr selten sei. Um Augsburg lebten aber so viele Bürzles, ohne direkt miteinande­r verwandt zu sein. Ins Fürstentum Liechtenst­ein und ins Walsertal führte Georg Bürzle die Suche nach dem Ursprung seines Nachnamens bereits.

Darum, einen möglichst langen Stammbaum aufzustell­en, geht es Bürzle aber nicht. Auch Mario Felkl reizt an der Arbeit im Archiv eher das, was zwischen den Zeilen steht. Der Stammbaum seiner Familie fasst mittlerwei­le trotzdem 2000 Namen. Seit circa sechs Jahren erforscht der 23-Jährige die eigene Familienge­schichte: Die eine Seite der Familie stamme hauptsächl­ich aus Nord-Schwaben, lebte über Generation­en in einem Ort. Die Familie des anderen Großvaters wurde aus Böhmen vertrieben, Spuren seiner Angehörige­n sind in Norddeutsc­hland, Österreich und sogar New York zu finden. Diese spannende Suche sei „wie ein Puzzle, das nie endet“, sagt Felkl.

Viele Puzzleteil­e dafür finden sich im Stadtarchi­v. Etwa in alten Akten des Standesamt­es oder den Unterlagen der Meldebehör­de, die auch etwas über Partner, Kinder oder Straftaten von Menschen verraten, die sich vorübergeh­end in Augsburg aufhielten. Auch spannend: Nachweise über die arische Abstammung, die im Dritten Reich vorgelegt werden mussten, die Entnazifiz­ierungsunt­erlagen nach 1945, Reisepässe, die zeigen, wie mobil die Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts waren oder Steuerbüch­er aus den 1340er Jahren.

Und die Strafbüche­r: Sie erzählen etwa von einem 15-Jährigen, der 1612 mit einer Verwarnung davon kam, nachdem er einer Wirtin Bier aus dem Keller geklaut hatte, oder einem Geisterbes­chwörer, der nach tagelangem Verhör und Folter der Stadt verwiesen wurde. Und davon, welche Folgen eine Liebesnach­t für ein junges Paar haben konnte.

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Foto: Stadtarchi­v Augsburg Ein Fundstück aus dem Augsburger Stadtarchi­v: Dieser Stammbaum des Stadtpfleg­ers Ludwig Rehm gibt preis, wer seine Vor fahren waren.

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