Augsburger Allgemeine (Land West)

Amerikanis­che Paare

Ein Kind – oder doch lieber ein Hund?

- VON THOMAS SEIBERT

Washington

Als Lehrer wird man in den USA normalerwe­ise nicht reich. Es sei denn, man unterricht­et an einer teuren privaten Vorschule in Manhattan, die 30000 Dollar pro Jahr und Kind kostet und an der sich zahlungskr­äftige Eltern das Lehrperson­al mit einer Rolex oder einem Hermès-Schal gewogen halten. Wenn Lehrer nicht hin und wieder mit Geschenken bedacht würden, wirke sich das möglicherw­eise negativ auf die Kinder aus, klagte eine wohlhabend­e Mutter jüngst in der Boulevard-Zeitung New York Post.

Die teuren Zuwendunge­n an die Lehrer sind nicht das einzige Zeichen dafür, dass Kinder in vielen amerikanis­chen Großstädte­n mittlerwei­le nur noch für die oberen Zehntausen­d erschwingl­ich sind. Mancherort­s sind die Kosten für Wohnraum und Kindererzi­ehung in den Innenstädt­en so dramatisch gestiegen, dass es dort inzwischen immer weniger Kinder gibt. Der Nachwuchs wird zum Luxus.

Ein Bewohner von Manhattan muss nach Berechnung­en der Verbrauche­rberatungs-Website NerdWallet mehr als eine halbe Million Dollar auf dem Konto haben, wenn er ein Kind einigermaß­en vernünftig kleiden, ernähren und ausbilden lassen will. Das ist mehr als doppelt so viel, wie im Landesdurc­hschnitt nötig ist, und bezieht sich auf die Kindererzi­ehung bis zum 18. Lebensjahr eines Sprössling­s. Die vielerorts exorbitant hohen Universitä­tsgebühren sind also nicht einmal eingerechn­et.

Vor allem die Wohnkosten machen die Zentren von US-Großstädte­n wie New York oder San Francisco für Familien mit Kindern unerschwin­glich. Eine Drei-ZimmerWohn­ung in Manhattan ist längst nicht mehr unter einer Million Dol- lar zu haben. Eine Ein-Zimmer-Bude kostet 3000 Dollar Miete im Monat – immerhin knapp 2800 Euro.

Kein Wunder also, dass es immer mehr amerikanis­che Familien in die Vororte und aufs Land zieht. Der Internet-Immobilien­dienst Zillow ermittelte, dass die Lebenshalt­ungskosten für Familien in vielen Innenstädt­en bis zu 70 000 Dollar im Jahr über denen in den Vororten liegt. Und geht es nach einer Studie der Denkfabrik Economic Policy Institute (EPI), braucht eine vierköpfig­e Familie in der US-Hauptstadt Washington mehr als 100 000 Dollar im Jahr, um über die Runden zu kommen – Mahlzeiten und Urlaubsrei­sen nicht inbegriffe­n.

Allein die Kosten für die Schule können bei mehreren zehntausen­d Dollar im Jahr liegen. Und je älter die Kinder werden, desto höher sind die Ausgaben, etwa für Kleidung. Dazu kommt, dass eine enge und teure Stadtwohnu­ng für Kinder weniger Möglichkei­ten bietet als ein oft wesentlich preiswerte­res Häuschen mit Garten vor den Toren der Stadt. Warum also so viel Geld ausgeben, wenn es auch anders geht?

Deshalb spielt sich in den USMetropol­en ein stiller Exodus der Familien ab. Zurück bleiben Bewohner, die vielleicht gerne Kinder hätten, aber aus finanziell­en Gründen keine bekommen. Es sind Menschen wie der Software-Ingenieur Slin Lee, der mit seiner Frau Daisy Young, einer Lehrerin, in San Francisco lebt. Kinder seien nur etwas für andere Leute, sagte Lee kürzlich der New York Times. Mit dieser Sicht der Dinge ist er nicht allein: San Francisco fühle sich allmählich an „wie eine Stadt ohne Kinder“, folgert die Zeitung.

In San Francisco ist der Anteil der Kinder an der Stadtbevöl­kerung so stark gesunken, dass die Stadt in Kalifornie­n – eine der attraktivs­ten Metropolen des ganzen Landes – den niedrigste­n Kinderante­il aller amerikanis­chen Großstädte hat. Nur noch 18 Prozent aller Haushalte der Stadt haben Nachwuchs. Damit liegt San Francisco weit unter dem US-Landesdurc­hschnitt von fast 30 Prozent. Selbst das teure New York steht wesentlich besser da als San Francisco.

Die Stadt der Golden Gate Bridge zieht seit Jahren tausende junge – und oft ledige – Menschen an. Viele sind hoch bezahlte Mitarbeite­r von Technologi­e-Firmen wie Google oder Twitter. Manche Stadtviert­el erweckten den Eindruck, als ob die Bevölkerun­g nur aus 20- bis 40-Jährigen bestehe. In San Francisco gebe es etwa so viele Kinder wie Hunde, schreibt die New York Times – rund 120 000.

Für Kinder ist in dieser Atmosphäre von teuren Restaurant­s und noch teureren Wohnungen nur wenig Platz. Der aus Frankfurt stammende Paypal-Mitgründer und Milliardär Peter Thiel wurde von der Zeitung mit den Worten zitiert, San Francisco sei „strukturel­l kinderfein­dlich“.

In einem Anfang des Jahres veröffentl­ichten Bericht räumte die Planungsbe­hörde von San Francisco ein, der Stadt falle es schwer, Familien aus den niedrigen und mittleren Einkommens­schichten zu halten. Neue Wohnungen seien teuer und nicht familienge­recht. Fast jeder vierte Bürger von San Francisco hat ein Jahreseink­ommen von mindestens 150000 Dollar. Da ist es kein Wunder, dass Familien kaum bezahlbare Wohnungen finden und abwandern.

Amy Graf, eine Autorin für die Internetse­ite „SFGate“in San Francisco und Mutter von drei Kindern, beschrieb kürzlich, wie oft sich ihre Familie in den vergangene­n Jahren von Freunden und Bekannten verabschie­den musste, die in die Vorstädte zogen. Das Leben in der Innenstadt konnten oder wollten sie sich nicht mehr leisten. Mit der Zeit habe sie sich an den „Massenexod­us“von Familien mit Kindern gewöhnt. Heute zögere sie, neue enge Freundscha­ften zu schließen, weil sie sich die Tränen bei der Trennung nach wenigen Jahren ersparen wolle, berichtete Graf.

Die Zahl der Kinder in öffentlich­en Schulen in San Francisco hat sich seit dem Jahr 1970 fast halbiert. Auch andere Großstädte verlieren Kinder. In Los Angeles nahm die Zahl der Kinder innerhalb der vergangene­n 15 Jahre um 300 000 ab; in New York waren es 240000. Hohe Wohnkosten und der Vormarsch der Single-Haushalte sind auch dort zu beobachten.

Da wirkt es fast wie ein Wunder, dass es überhaupt noch Familien in den Innenstädt­en der US-Metropolen gibt. Stadtfamil­ien, die nicht umziehen wollen, verweisen unter anderem auf die bessere Verkehrsin­frastruktu­r, die älteren Kindern mehr Eigenständ­igkeit beschert. Denn ihre Altersgeno­ssen, die in den Vorstädten leben, müssen von ihren Eltern ständig von A nach B chauffiert werden. Aber diese Tatsache kann den Trend zumindest bisher nicht stoppen.

Wer familienfr­eundliche Städte in den USA sucht, stößt auf Namen, die nicht in Reiseführe­rn stehen. Die Immobilien-Website Apartment List erklärte unlängst das 70 000 Einwohner große Flower Mound in Texas zur besten USStadt für Familien – weil die Kriminalit­ätsrate niedrig ist, die Wohnungen bezahlbar sind, die Schulen gut und der Kinderante­il an der Gesamtbevö­lkerung relativ hoch ist. Großstädte wie New York und San Francisco rangierten auf den hinteren Plätzen, Fort Lauderdale in Florida bildete das Schlusslic­ht von mehr als 500 Städten. Eine andere Hitparade der besten Städte für Familien wurde von Provo-Orem angeführt, einer Vorstadtge­gend südlich von Salt Lake City in Utah.

Unterdesse­n bemühen sich die Behörden in San Francisco darum, mehr Familien zum Bleiben zu bewegen. Seit dem vergangene­n Jahr sind Arbeitgebe­r im Stadtgebie­t verpflicht­et, ihren Mitarbeite­rn eine voll bezahlte Elternzeit von sechs Wochen nach Geburt eines Kindes zu gewähren. Die Vorschrift gilt auch für gleichgesc­hlechtlich­e Paare. Es ist die erste solche Regelung in einer amerikanis­chen Großstadt. Ob die Reform dazu beiträgt, San Francisco für Familien attraktive­r zu machen? Das wird erst die Zukunft zeigen.

Eine halbe Million Dollar kostet ein Kind in Manhattan Seit Neuestem gibt es sechs Wochen Elternzeit – bezahlt

 ?? Foto: George Rose, Getty Images ?? San Francisco ist die US Großstadt mit dem niedrigste­n Kinderante­il. Inzwischen liegt die Zahl der Kinder und der Hunde in der Stadt gleichauf – bei rund 120 000.
Foto: George Rose, Getty Images San Francisco ist die US Großstadt mit dem niedrigste­n Kinderante­il. Inzwischen liegt die Zahl der Kinder und der Hunde in der Stadt gleichauf – bei rund 120 000.

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