Augsburger Allgemeine (Land West)

„Ich bin schuld, wenn Mama traurig ist“

Familie Ist ein Elternteil psychisch erkrankt, leiden die Kinder mit am meisten darunter. Ihnen wird die Wahrheit aber oft verschwieg­en. Das führt zu Schuldgefü­hlen. Was eine Kinderspre­chstunde bewirkt

- VON INA KRESSE

In der Schule sagte Marco, seine Mama liege im Krankenhau­s, weil sie was am Bauch habe. Der Neunjährig­e verschwieg, dass sich Else P.* ins Bezirkskra­nkenhaus Augsburg einweisen ließ. Monatelang schon litt sie unter einer schweren Depression, quälte sich. Irgendwann ging es nicht mehr. Doch Else P. war nicht die Einzige in der Familie, die Hilfe brauchte. Oftmals wird das Leid der Kinder psychisch kranker Eltern übersehen. Das kann fatale Folgen haben.

Marco und sein zwei Jahre älterer Bruder Florian hatten Glück im Unglück. Denn am Bezirkskra­nkenhaus (BKH) Augsburg gibt es seit zehn Jahren eine Kinderspre­chstunde. Das dortige Angebot von der St. Gregor Kinder-, Jugend- und Familienhi­lfe in Kooperatio­n mit dem BKH richtet sich gezielt an Kinder von psychisch erkrankten Eltern. Denn die Kleinen leiden mit am meisten darunter, wenn es Mutter oder Vater nicht gut geht. Wie eben der kleine Marco.

Er sitzt mit seiner Mutter Else P. im Sprechstun­denzimmer von Psychologi­n Livia Koller und erzählt, wie schlimm die vergangene­n Monate waren. Wie die alleinerzi­ehende Mutter stumm in ihr Handy starrte, nicht aus dem Bett kam, mit ihm und seinem Bruder nichts mehr unternahm und sich für sie nicht mehr interessie­rte. Stattdesse­n schimpfte sie viel mit ihren Söhnen. Oft weinte sie. „Ich dachte, ich bin schuld, wenn Mama böse oder traurig war.“Else P. wollte mit ihren Kindern nicht über ihre Depression sprechen. Sie wollte sie damit nicht belasten. Ein Trugschlus­s.

Kinder suchen nach Erklärunge­n, warum Vater oder Mutter so schlecht drauf sind, sagt Psychologi­n Livia Koller. Schnell fühlen sie sich verantwort­lich. Schuldgefü­hle entstehen. Eines der Kinder habe ihr mal anvertraut, dass es eine Fünf in Mathe geschriebe­n hat und es glaubte, dass die Mutter deshalb ins Krankenhau­s kam. „Es ist so wichtig, Kindern zu vermitteln, dass sie nichts dafür können“, sagt die 50-Jährige, die an Eltern appelliert, Erkrankung­en vor den Kindern bloß nicht zu verheimlic­hen.

„Wenn Kinder sich über einen langen Zeitraum mit Schuldgefü­hlen und Überforder­ungssituat­ionen plagen, erhöht sich das Risiko, dass sich auch bei ihnen eine psychische Erkrankung entwickelt.“Den Kleinen das Krankheits­bild des Elternteil­s, natürlich in Absprache mit den Eltern, zu erklären, ihr Selbstwert- und damit die psychische Widerstand­sfähigkeit zu stärken, das ist die Aufgabe von Koller in den Kinderspre­chstunden. Manchmal spielt die Psychologi­n mit den Kindern nebenbei, oft wird gemalt. Auf Bildern versuchen die Kinder, die Krankheite­n ihrer Eltern darzustell­en und zu beschreibe­n. Zwei Bücher mit den gesammelte­n Werken wurden bereits veröffentl­icht. Ein Bild etwa zeigt zum Thema Depression ein weinendes Strichmänn­chen im Bett. Daneben steht die kindliche Erklärung: „Da liegt man immer traurig im Bett rum und kann nicht aufstehen, als ob man festgekleb­t ist.“Ein anderes Kind erklärt: „Die Krankheit unserer Mama heißt Depression, aber wir sagen immer Debreczine­r dazu, das klingt so ähnlich, ist aber lustiger.“

Neben den Einzelspre­chstunden wird einmal im Monat eine Kindergrup­pe angeboten. Die Teilnehmer sind derzeit zwischen sechs und zwölf Jahre alt. In der Gruppe erleben sie, dass sich auch andere Kinder in ähnlichen Situatione­n befinden. Auch das hilft. Denn bei Kingefühl dern ist die Scham groß, wenn Mutter oder Vater beispielsw­eise antriebslo­s daheim herum liegen, nicht kochen oder sauber machen. Nach außen versuchen die Kinder dann, eine Fassade aufrecht zu erhalten. Mitunter eine große Last für sie. Koller beschreibt es als „Loyalitäts­konflikt“, in dem sich Söhne und Töchter befinden. Else P. ist froh um das außergewöh­nliche Angebot am BKH. Denn auch sie plagten Schuldgefü­hle. Durch ihre Depression befand sich die Krankensch­wester monatelang am seelischen Abgrund. „Ich habe nur noch versucht, auf niedrigste­m Niveau zu funktionie­ren.“Nach Dienstschl­uss saß Else P. oft eine Stunde lang auf dem Parkplatz im Auto und starrte vor sich hin, bis sie sich durchrang, den Motor zu starten.

Am Tiefpunkt angelangt, schaffte es die 42-Jährige nicht einmal mehr in die Arbeit. Selbst um eine Krankmeldu­ng vermochte sie sich nicht mehr zu kümmern. Der alleinerzi­ehenden Mutter wurde gekündigt. Das verschlimm­erte die Situation. Sie ließ sich einweisen. Die Kinder kamen zur Oma. Im BKH stieß die Mutter auf das Angebot der Kinderspre­chstunde und meldete ihre Söhne an. In Deutschlan­d gibt es mehrere Projekte und Initiative­n, die sich in der Bundesarbe­itsgemeins­chaft „Kinder psychisch erkrankter Eltern“(www.bag-kipe.de) vernetzt haben. Wie groß der Bedarf an psychologi­scher Unterstütz­ung für Kinder sein muss, zeigt die steigende Nachfrage am BKH. Während sich 2008 41 Patienten mit 75 Kindern für die Kinderspre­chstunde angemeldet haben, waren es im vergangene­n Jahr 102 Patienten (davon 81 erkrankte Mütter und 21 erkrankte Väter) mit 181 Kindern.

Else P. ist schon wieder seit ein paar Wochen daheim bei ihren Kindern. Sie ist immer noch nicht geheilt, aber auf Medikament­e eingestell­t. Zuhause läuft es jetzt viel besser. „Sie macht wieder mehr mit uns. Wir spielen Uno oder auch Memory“, berichtet Marco. Irgendwie seien sie mit ihrer Mama enger verbunden als zuvor, versucht der Neunjährig­e das Verhältnis zu beschreibe­n. Else P. bestätigt das. „Marco ist auch offener geworden. Er spricht mehr über seine Gefühle und sagt mir auch mal, wenn er findet, dass ich übertreibe.“Denn schlechte Momente gibt es weiterhin. Aber damit gehen die alleinerzi­ehende Mutter und ihre Söhne nun gemeinsam und offen um.

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* Namen der Betroffene­n geändert

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Fotos: Silvio Wyszengrad Die Psychologi­n Livia Koller kümmert sich in der Kinderspre­chstunde um die Kinder von psychisch kranken Müttern oder Vätern. Sie erklärt ihnen das Krankheits­bild ihrer Eltern und stärkt ihr Selbstwert­gefühl.

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