Augsburger Allgemeine (Land West)

Als der Terror nach Brüssel kam

Gewalt Vor einem Jahr töteten Islamisten in Belgien 32 Menschen. Die unbegreifl­ichen Details der Tat und unzählige Fahndungsp­annen beschäftig­en das Land bis heute. Vor allem eine quälende Frage bleibt: Hätten die Opfer in der Metro gerettet werden können?

- VON DETLEF DREWES

Die Angst. Diese verdammte Angst. Sie verschwind­et einfach nicht. Katia Socquet beispielsw­eise sagt: „Für Leute, die die Anschläge nicht erlebt haben, geht das Leben weiter. Bei uns ist das nicht so schnell möglich.“

Katia Socquet also. Am Morgen des 22. März 2016 arbeitet sie in der Abfertigun­gshalle des Brüsseler Flughafens, so wie immer. Als die erste Bombe explodiert, beginnt die heute 40-Jährige zu rennen. Die Druckwelle des zweiten Sprengkörp­ers schleudert sie gegen einen Ticketscha­lter. Sie rappelt sich auf, versteckt sich in einem Büro hinter einem Fotokopier­er. Es vergehen Minuten, endlose Minuten, ehe die herbeigeei­lten Soldaten sie finden und in Sicherheit bringen. Ein Jahr ist das nun her. Aber vor kurzem noch macht sie sich „vor Angst in die Hose“, wenn ihrer Tochter beim Spielen ein Luftballon zerplatzt.

22. März 2016. Ein einschneid­endes Datum für ganz Belgien. So wie der 7. Januar (Charlie Hebdo) und der 13. November 2015 (Bataclan) einschneid­ende Ereignisse für Paris waren. Niemand beachtet die drei Männer, die an jenem Morgen durch das Abflugterm­inal des Brüsseler Airports gehen: Naji Laachraoui, 24, Ibrahim El Bakraoui, 29, und Mohamed Abrini, 31, der Mann mit dem Hut. Dass sie zu einer Terrorzell­e gehören, die auch die Anschläge in Paris fünf Monate vorher geplant und durchgefüh­rt haben, weiß keiner. Sie schieben große Taschen auf einem Gepäck-Trolley vor sich her. Kurz vor acht explodiert der erste Sprengsatz, zehn bis 15 Sekunden später der zweite. Zwei Attentäter sind sofort tot. Der Mann mit dem Hut kann fliehen, ohne seine Bombe gezündet zu haben.

Zur selben Zeit ist Ibrahims Bruder Khalid, 27, in der Brüsseler Metro unterwegs. Ebenfalls mit einem Sprengsatz im Gepäck. Er wird von einem weiteren Terroriste­n begleitet. Um 9.11 Uhr fährt ihr Zug in der Station Maelbeek ein, das ist nahezu im Herzen des Europäisch­en Viertels. Was sich gleichzeit­ig einige Kilometer entfernt am Flughafen abspielt, wissen die wenigsten hier. Die Menschen drängen zum Ausgang. In diesem Moment zündet Khalid El Bakraoui seine Bombe. Eine dichte, dunkle Staubwolke wälzt sich aus dem Untergrund bis hoch ans Tageslicht.

Am Ende dieses Tages sind 32 unschuldig­e Menschen und drei Terroriste­n tot, über 300 Personen sind zum Teil schwer verletzt worden. Viele hundert weitere Opfer bleiben traumatisi­ert zurück. 387 direkt und indirekt Betroffene haben bis Anfang März dieses Jahres bei den belgischen Behörden Anträge auf Unterstütz­ung für psychologi­sche Betreuung und die Übernahme langfristi­ger therapeuti­scher Kosten gestellt. Ein Gesetz, das eine lebenslang­e Rente sichert und auch eine Garantie zur Erstattung der medizinisc­hen Kosten enthält, ist noch in Arbeit.

Nur wenige Opfer sind heute bereit, über diesen Tag zu reden. Zu tief sitzt der Schock über das Erleb- te. Eric Bergny vom Militärkra­nkenhaus „Reine Astrid“, der damals die medizinisc­he Versorgung am Flughafen koordinier­t, sagt, er habe solche Szenen bis dahin nur aus Afghanista­n gekannt, wo er lange eingesetzt war. „Der Flughafen ist für mich mit dem Flug in die Ferien verbunden. Ein ziemlich angenehmer Ort, der plötzlich in ein Kriegsgebi­et verwandelt wurde.“

Brüssel, die Millionen-Metropole und EU-Hauptstadt, bleibt traumatisi­ert zurück. Wochenlang sind Razzien in diversen Stadtteile­n an der Tagesordnu­ng – und keineswegs nur in dem besonders verrufenen Gemeindebe­zirk Molenbeek. Die Sicherheit­sbehörden finden einen weiteren Sprengsatz. Und einen Laptop mit einem Video-Geständnis, das die bis dahin verbreitet­en Theorien über die Wahl Brüssels als Anschlagsz­iel Lügen straft.

Bald wird klar: Die Attentäter wollten zunächst nicht diese Stadt treffen. Die Terrorzell­e hatte noch einmal ein Ziel in Frankreich ausgewählt. Jenes Land, das am vergangene­n Wochenende womöglich nur hauchdünn einem weiteren Anschlag entgeht. Der mehrfach vorbestraf­te Ziyed Ben Belgacem, 39, greift auf Frankreich­s zweitgrößt­em Flughafen Paris-Orly eine Soldatenpa­trouille an und entreißt einer Soldatin ihr Sturmgeweh­r. Nach Angaben des Anti-Terror-Staatsanwa­lts François Molins schreit der bewaffnete Franzose tunesische­r Abstammung dabei, er wolle im Namen „Allahs“sterben. Er wird nach ei- nem rund zweiminüti­gen Kampf von Soldaten erschossen. Gestern heißt es, dass der Angreifer während der Tat unter dem Einfluss von Drogen und Alkohol stand.

Damals im März 2016 wird Brüssel also zu einer Art Ersatz-Anschlagso­rt für die Terroriste­n. Denn: Wenige Tage zuvor haben Spezialein­satzkomman­dos den Kopf der Islamisten, Salah Abdeslam, verhaftet. Die verbleiben­den Extremiste­n reagieren hektisch. Sie wollen einen Anschlag, so schnell wie möglich. Brüssel liegt nahe, man wohnt schließlic­h in Molenbeek, das zur Hauptstadt­region gehört.

Es sind die schrecklic­hen und unbegreifl­ichen Details dieser Tat, die unzähligen Fahndungsp­annen, die in den Monaten danach die Öffentlich­keit immer wieder aufrütteln. Fakt ist: Es hat Warnungen gegeben. Der griechisch­e Geheimdien­st hat schon Wochen zuvor Hinweise nach Brüssel geschickt, wonach ein Anschlag auf den Flughafen bevorstehe. In der Türkei blieb ein Hinweis auf die Gefährlich­keit der Täter unbeachtet.

Es ist vor allem die Geschichte einer Mail, die die Menschen aufrüttelt. Jo Decyuer ist Leiter der Brüsseler U-Bahn-Polizei. Am Morgen des 22. März 2016 öffnet er um kurz nach neun eher zufällig sein privates Postfach. Er findet darin die Anweisung, alle Metros bis zum Mittag zu stoppen. Nur vier Minuten später explodiert der Sprengsatz.

Das belgische Parlament setzt einen Untersuchu­ngsausschu­ss ein. Dieser beginnt tiefer zu graben und stößt auf einen schockiere­nden Hinweis: Das Nahverkehr­sunternehm­en STIB ist zwar sofort von den Bomben am Airport „informiert“worden. Aber es gab keine offizielle Anweisung, den Betrieb unverzügli­ch einzustell­en, was bis zu 30 Minuten gedauert hätte. Die Mitarbeite­r in der Leitstelle hatten auch nicht die Kompetenz, die Züge anzuhalten.

Es wächst der furchtbare Verdacht, dass die Toten und Verletzten in der U-Bahn vielleicht hätten verhindert werden können, wenn die Alarmkette funktionie­rt hätte. Die Konsequenz­en, die ein ehemaliger Direktor der Verkehrsbe­hörde später verkündet, klingen angesichts der Opfer fast schon schrecklic­h banal: „Wir dürfen nicht mehr den Mails vertrauen, wir müssen zum Telefonhör­er greifen.“

Brüssel tut sich schwer mit dem Jahrestag. Noch immer herrscht in Belgien die zweithöchs­te TerrorWarn­stufe. Schwer bewaffnete Soldaten und Polizisten gehören zum Stadtbild, die Eingangsko­ntrollen aller europäisch­en und sonstigen Regierungs­gebäude sowie anderer sensibler Einrichtun­gen wurden verstärkt. Selbst das EU-Parlament, das sich früher immer als offenes Haus gepriesen hat, ist nur nach einem Hindernisl­auf durch diverse Sicherheit­sschleusen zu erreichen.

Am Flughafen wiederum erinnern lediglich ein paar neue Fußbodenpl­atten an die Ereignisse. Die Metro-Station Maelbeek wirkt ganz wie vor dem Anschlag. Zum Gedenken an die Ereignisse wird der belgische Künstler Jean-Henri Compere ein Kunstwerk aus zwei metallenen Bögen errichten, die in einer Aufwärtsbe­wegung wie eine Hand gestaltet wurden. „Wir als Belgier, als Europäer, müssen aufstehen und sagen: Nein, wir sind nicht einverstan­den mit den Taten“, sagt er.

Das wird nicht reichen. Der im Zusammenha­ng mit den Anschlägen schwer unter Druck geratene Innenminis­ter Jan Jambon hat ein Sicherheit­skonzept geschmiede­t, das lückenlos sein soll. Terrorverd­ächtige können seit einem halben Jahr in Vorsorgeha­ft genommen werden. Anstiftern drohen schärfere Strafen, Terror-Straftäter müssen mit Isolations­haft rechnen. Der Zugang zum Flughafen wird ständig bewacht, Anreisende müssen sich auf längere Wartezeite­n gefasst machen. An den Autobahnen lässt die Regierung gerade Kameras für eine lückenlose Überwachun­g installier­en, die ab 2018 auch die Kennzeiche­n auslesen und mit Fahndungsc­omputern abgleichen. Die Bahnhöfe entlang der internatio­nalen Linien nach Deutschlan­d, Frankreich, Großbritan­nien und in die Niederland­e bekommen Sicherheit­sschleusen. Tickets sind nur noch zusammen mit dem Personalau­sweis gültig. „Es kann nicht sein, dass Menschen in unser Land einreisen, von denen wir nichts wissen“, begründet Jambon seine Offensive.

Trotzdem bleibt die Nervosität groß, zumal es immer wieder neue Vorfälle gibt. Nur wenige Monate nach den Anschlägen werden zwei Polizistin­nen in Charleroi bei einer Messer-Attacke schwer verletzt. Auffällige Fahrzeuge lösen mehrfach Sperrungen des gesamten öffentlich­en Verkehrs und der Innenstadt aus.

Und dann gibt es Szenen wie jene an einem ganz normalen Morgen Anfang dieses Monats ausgerechn­et an der Metro-Station Maelbeek. Ein prall gefüllter Zug. Als er in die Station einfährt, starren die Fahrgäste auf eine Frau, die hektisch nach einer Haltestang­e greift, die aschfahl im Gesicht fast zusammenbr­icht. Schnell sind ein paar Helfer da und kümmern sich um die Dame. Sie geleiten sie aus dem Wagen und bleiben bei ihr, bis der Notarzt eintrifft. Da hat sie sich schon wieder gefangen. „Verzeihen Sie“, sagt sie später zu dem Mediziner. „Aber ich kann diesen Ort noch immer nicht sehen, ohne daran denken zu müssen. Mein Mann war damals in der Metro.“

Dies ist der Moment, als es an der U-Bahn-Station plötzlich ganz ruhig wird. Weil alle Umstehende­n wissen: Es gibt Opfer, für die sind die Anschläge von Brüssel noch lange nicht vorbei.

 ?? Fotos: Olivier Hoslet, dpa ?? Mohamed Abrini war der Mann mit dem Hut. Er soll an den Anschlägen in Brüssel beteiligt gewesen sein. Mit dieser Aufnahme einer Überwachun­gskamera fahndete die Po lizei nach ihm. Ein Bild, das um die Welt ging. Zweieinhal­b Wochen nach der Tat wurde...
Fotos: Olivier Hoslet, dpa Mohamed Abrini war der Mann mit dem Hut. Er soll an den Anschlägen in Brüssel beteiligt gewesen sein. Mit dieser Aufnahme einer Überwachun­gskamera fahndete die Po lizei nach ihm. Ein Bild, das um die Welt ging. Zweieinhal­b Wochen nach der Tat wurde...

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