Augsburger Allgemeine (Land West)
Martin Schulz ist nicht zu fassen Debatte
Die Union will die Lichtgestalt der SPD endlich in die Diskussion um Inhalte verwickeln. Doch er weicht bisher geschickt aus. Führt ihn das ins Kanzleramt?
Nichts hatten die politischen Gegner von der Union mehr gehofft, als dass die neue Lichtgestalt der SPD sich mit ihrer Kür zum Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten endlich inhaltlich aus der Deckung wagt. Denn dann hätten sie beginnen können, eine Forderung nach der anderen zu zerpflücken. Doch Martin Schulz tut ihnen den Gefallen nicht, bleibt weiter so vage, dass er auf der Sachebene kaum Angriffsflächen bietet. Und auf der Ebene der Gefühle hat ihm die Union derzeit ohnehin nichts entgegenzusetzen. Bei CDU und CSU sind sich deshalb viele längst nicht mehr sicher, ob die demonstrative Gelassenheit, die Kanzlerin Angela Merkel zur Schau trägt, nun souverän und staatsmännisch wirkt – oder nicht doch einfach nur amtsmüde.
Nichts fürchten sie in der Union mehr als das Phänomen Wechselstimmung, das auch Regenten aus dem Amt fegen kann, die fast alles richtig gemacht haben. Und sehen mit Entsetzen, wie Schulz und die SPD sich in einen wahren Rausch gesteigert haben. Erst zog der Quereinsteiger aus Brüssel die sieche Sozialdemokratie aus dem Umfragetief, jetzt gibt die Partei ihrem Hoffnungsträger mit einem HundertProzent-Votum einen gewaltigen Schub für den Wahlkampf.
In der Union dagegen ist das Murren über die Kanzlerin allenfalls unterdrückt. Fast ausschließlich geht es um ihre zeitweilige Flüchtlingspolitik. Der alte Groll schwelt weiter. Begeisterung geht anders. Wie, das zeigt Martin Schulz. Ihm laufen die Menschen in Scharen zu, weil er weniger auf ihren Verstand, sondern vielmehr auf ihr Gefühl zielt. Unermüdlich spricht er von dem Mehr an Gerechtigkeit, Würde und Respekt, das die kleinen, hart arbeitenden Leute verdient hätten. Was Schulz fordert, das wünschen sich alle Menschen – doch wie er es in konkrete Politik gießen will, erklärt er allenfalls vage.
Wenn Schulz freie Bildung für alle oder längeres Arbeitslosengeld I bei Weiterbildung fordert, jubeln ihm die Fans zu wie einem Rockstar – noch sehen sie ihm nach, dass er mit keinem Wort darauf eingeht, wie die Wohltaten zu finanzieren seien und wie weit links er die Partei positionieren will. Seine Haltung zur Flüchtlings- und Sicherheitsfrage bleibt nebulös. Aussagen zu möglichen Koalitionspartnern? Ebenso Fehlanzeige. Bloß niemandem die Schulz-Laune verderben, scheint die Devise. Doch irgendwann, das wissen sie auch bei den Sozialdemokraten, wird der Wähler wissen wollen, welche Positionen Schulz wirklich vertritt.
Im Moment hat das Verharren im Nebulösen für die SPD den Charme, dass sie ihren neu entdeckten Willen zur Machtübernahme nicht gleich wieder im Streit um lästige Sachfragen zerreden muss. Und dass die Union schlichtweg keine Ahnung hat, wo sie den unerwartet gefährlichen Herausforderer treffen kann. Weil sie immer noch nicht weiß, wofür er steht.
Jetzt, wo Schulz als Parteichef mit in der Regierungsverantwortung steht, hätten sie ihn packen wollen. Denn im Koalitionsausschuss müsse er zu strittigen Fragen Farbe bekennen, heißt es bei erfahrenen Strategen der Union. Doch den Gefallen tut ihnen Schulz nicht, er hat den Koalitionsgipfel am 29. März schon abgesagt. Vizekanzler Sigmar Gabriel und Fraktionschef Thomas Oppermann sollen ihn vertreten. Er selbst feiert lieber mit der SPD im Bundestag ein Fest. Die Botschaft ist klar: Aus der lästigen Regierungsarbeit hält er sich heraus, mit der Großen Koalition hat er nichts zu tun. Da können sie ihn bei der Union noch so sehr der Drückebergerei zeihen.
Mit dem Ärger darüber, dass Schulz den Fallstricken der politischen Realität ein ums andere Mal geschickt ausweicht, wächst im konservativen Lager die Ratlosigkeit. Wie nur umgehen mit einem Gegner, der inhaltlich wenig verspricht, was er auch halten muss? Den Schulz-Zug erst einmal fahren lassen und hoffen, dass ihm der bisher so reichlich vorhandene Treibstoff Begeisterung bald ausgeht? Auf diese Strategie setzen bislang Angela Merkel und ihr Wahlkampfmanager Peter Tauber.
Doch die Kritik am Stillhalten wächst. In der Union kursiert schon ein Spruch, der an ein Motto der Friedensbewegung erinnert: „Stell dir vor, es ist Wahlkampf – und keiner geht hin.“Die Konservativen fürchten: Je länger ihre kühl wirkende Kanzlerin bei dieser Devise bleibt, desto größer wird die Gefahr, dass sie gegen den heißblütigen Herausforderer bei der Bundestagswahl im September ein Debakel erlebt.