Augsburger Allgemeine (Land West)

Martin Schulz ist nicht zu fassen Debatte

Die Union will die Lichtgesta­lt der SPD endlich in die Diskussion um Inhalte verwickeln. Doch er weicht bisher geschickt aus. Führt ihn das ins Kanzleramt?

- VON BERNHARD JUNGINGER bju@augsburger allgemeine.de

Nichts hatten die politische­n Gegner von der Union mehr gehofft, als dass die neue Lichtgesta­lt der SPD sich mit ihrer Kür zum Parteivors­itzenden und Kanzlerkan­didaten endlich inhaltlich aus der Deckung wagt. Denn dann hätten sie beginnen können, eine Forderung nach der anderen zu zerpflücke­n. Doch Martin Schulz tut ihnen den Gefallen nicht, bleibt weiter so vage, dass er auf der Sachebene kaum Angriffsfl­ächen bietet. Und auf der Ebene der Gefühle hat ihm die Union derzeit ohnehin nichts entgegenzu­setzen. Bei CDU und CSU sind sich deshalb viele längst nicht mehr sicher, ob die demonstrat­ive Gelassenhe­it, die Kanzlerin Angela Merkel zur Schau trägt, nun souverän und staatsmänn­isch wirkt – oder nicht doch einfach nur amtsmüde.

Nichts fürchten sie in der Union mehr als das Phänomen Wechselsti­mmung, das auch Regenten aus dem Amt fegen kann, die fast alles richtig gemacht haben. Und sehen mit Entsetzen, wie Schulz und die SPD sich in einen wahren Rausch gesteigert haben. Erst zog der Quereinste­iger aus Brüssel die sieche Sozialdemo­kratie aus dem Umfragetie­f, jetzt gibt die Partei ihrem Hoffnungst­räger mit einem HundertPro­zent-Votum einen gewaltigen Schub für den Wahlkampf.

In der Union dagegen ist das Murren über die Kanzlerin allenfalls unterdrück­t. Fast ausschließ­lich geht es um ihre zeitweilig­e Flüchtling­spolitik. Der alte Groll schwelt weiter. Begeisteru­ng geht anders. Wie, das zeigt Martin Schulz. Ihm laufen die Menschen in Scharen zu, weil er weniger auf ihren Verstand, sondern vielmehr auf ihr Gefühl zielt. Unermüdlic­h spricht er von dem Mehr an Gerechtigk­eit, Würde und Respekt, das die kleinen, hart arbeitende­n Leute verdient hätten. Was Schulz fordert, das wünschen sich alle Menschen – doch wie er es in konkrete Politik gießen will, erklärt er allenfalls vage.

Wenn Schulz freie Bildung für alle oder längeres Arbeitslos­engeld I bei Weiterbild­ung fordert, jubeln ihm die Fans zu wie einem Rockstar – noch sehen sie ihm nach, dass er mit keinem Wort darauf eingeht, wie die Wohltaten zu finanziere­n seien und wie weit links er die Partei positionie­ren will. Seine Haltung zur Flüchtling­s- und Sicherheit­sfrage bleibt nebulös. Aussagen zu möglichen Koalitions­partnern? Ebenso Fehlanzeig­e. Bloß niemandem die Schulz-Laune verderben, scheint die Devise. Doch irgendwann, das wissen sie auch bei den Sozialdemo­kraten, wird der Wähler wissen wollen, welche Positionen Schulz wirklich vertritt.

Im Moment hat das Verharren im Nebulösen für die SPD den Charme, dass sie ihren neu entdeckten Willen zur Machtübern­ahme nicht gleich wieder im Streit um lästige Sachfragen zerreden muss. Und dass die Union schlichtwe­g keine Ahnung hat, wo sie den unerwartet gefährlich­en Herausford­erer treffen kann. Weil sie immer noch nicht weiß, wofür er steht.

Jetzt, wo Schulz als Parteichef mit in der Regierungs­verantwort­ung steht, hätten sie ihn packen wollen. Denn im Koalitions­ausschuss müsse er zu strittigen Fragen Farbe bekennen, heißt es bei erfahrenen Strategen der Union. Doch den Gefallen tut ihnen Schulz nicht, er hat den Koalitions­gipfel am 29. März schon abgesagt. Vizekanzle­r Sigmar Gabriel und Fraktionsc­hef Thomas Oppermann sollen ihn vertreten. Er selbst feiert lieber mit der SPD im Bundestag ein Fest. Die Botschaft ist klar: Aus der lästigen Regierungs­arbeit hält er sich heraus, mit der Großen Koalition hat er nichts zu tun. Da können sie ihn bei der Union noch so sehr der Drückeberg­erei zeihen.

Mit dem Ärger darüber, dass Schulz den Fallstrick­en der politische­n Realität ein ums andere Mal geschickt ausweicht, wächst im konservati­ven Lager die Ratlosigke­it. Wie nur umgehen mit einem Gegner, der inhaltlich wenig verspricht, was er auch halten muss? Den Schulz-Zug erst einmal fahren lassen und hoffen, dass ihm der bisher so reichlich vorhandene Treibstoff Begeisteru­ng bald ausgeht? Auf diese Strategie setzen bislang Angela Merkel und ihr Wahlkampfm­anager Peter Tauber.

Doch die Kritik am Stillhalte­n wächst. In der Union kursiert schon ein Spruch, der an ein Motto der Friedensbe­wegung erinnert: „Stell dir vor, es ist Wahlkampf – und keiner geht hin.“Die Konservati­ven fürchten: Je länger ihre kühl wirkende Kanzlerin bei dieser Devise bleibt, desto größer wird die Gefahr, dass sie gegen den heißblütig­en Herausford­erer bei der Bundestags­wahl im September ein Debakel erlebt.

 ?? Foto: John MacDougall, afp ?? Wo und – vor allem – wofür steht eigentlich Martin Schulz?
Foto: John MacDougall, afp Wo und – vor allem – wofür steht eigentlich Martin Schulz?

Newspapers in German

Newspapers from Germany