Augsburger Allgemeine (Land West)

Auf den Mund geschaut

Sport Julia Probst ist Deutschlan­ds bekanntest­e Lippenlese­rin. Um nicht ausspionie­rt zu werden, halten Sportler immer häufiger die Hand vor den Mund – zur Belustigun­g der 35-Jährigen

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Frau Probst, Sie gelten als Deutschlan­d bekanntest­e Lippenlese­rin. Haben Sie eigentlich ein schlechtes Gewissen, wenn Sportler sich bei Ereignisse­n wie jetzt bei Länderspie­len die Hände vor den Mund halten?

Ich nehme es als Kompliment – ein schlechtes Gewissen habe ich dabei nicht, denn Lippenlese­n ist nun mal nicht in jeder Situation möglich. Viele Leute haben die Vorstellun­g, dass es jederzeit immer und überall der Fall ist, was aber so nicht stimmt. Die Bedingunge­n müssen schon optimal sein. Ich würde mir eher wünschen, dass die Menschen, die Überwachun­g via Cyber-Technologi­e anordnen, ein schlechtes Gewissen haben, weil dies wirklich ein großer Eingriff ist in die Privatsphä­re aller Menschen.

Julia Probst:

Sie können Lippenlese­n, weil Sie von Geburt an gehörlos sind. Welcher Kicker-Dialog ist ihnen denn besonders im Kopf geblieben?

Ich bin von Geburt an gehörlos, aber das bedeutet nicht automatisc­h, dass man sehr gut im Lippenlese­n ist. Nicht alle Gehörlosen können so gut Lippenlese­n, was ich hier gerne klarstelle­n möchte. Bei mir kam einfach noch eine Sprachbega­bung dazu. Von der WM 2010 mochte ich am allerliebs­ten den Dialog beim Spiel um Platz drei, in dem Schweini in der Mitte gehockt hat und alle um ihn herum standen und er die Mannschaft anfeuerte: „Von nichts kommt nichts.“Da konnte man schon sehen, dass Schweini zum emotionale­n Leader geboren ist.

Probst:

Bei der WM 2014 hatte das ZDF eine Jogi-Cam, bei der Sie dem Bundestrai­ner im wahrsten Sinn des Wortes auf den Mund sehen und seine Äußerungen übersetzen konnten. Wie lief das?

Ich saß vor dem Fernseher, hatte meinen Laptop auf dem Couchtisch, wo die Jogi-Cam lief, und habe also quasi mit einem Auge auf den Fernseher geschielt und mit dem anderen auf die Jogi-Cam. Klingt anstrengen­d und war es auch, aber trotzdem hat es Spaß gemacht.

Probst:

Manche Sportler fühlen sich von dem Lippenlese­n gestört – können Sie das nachvollzi­ehen?

Ich kann es verstehen, aber mein Eindruck ist, dass die Spieler in dem sterilen Fußballges­chäft dadurch mehr Authentizi­tät bekommen, denn der Fan sieht, dass sie genauso fluchen, genauso emotional und leidenscha­ftlich bei der Sache sind wie ein Hobbyfußba­ller – das verbindet doch sehr bei dem Lohngefäll­e. Und man sieht ja auch, dass sie alle keine Roboter oder Maschinen sind.

Probst:

Wie reagieren Sie eigentlich, wenn Sie einen Sportler mit Trikot vor dem Mund sehen?

Wie gesagt, ich sehe es als Kompliment an – ich muss immer sehr laut lachen vor dem Fernseher, wenn ich einen Spieler oder einen Trainer sehe, der die Hand oder das Trikot hochhält.

Probst:

In England musste der damalige Kapitän John Terry 2012 zurücktret­en, als eine Lippenlese­rin veröffentl­ichte, was er wohl zu seinem dunkelhäut­igen Mitspieler Anton Ferdinand gesagt hatte. Gibt es Dinge, die Sie nicht übersetzen würden?

Ich übersetze nur Dinge, von denen ich mir sicher bin, dass ich sie richtig verstanden habe. Ich finde es wichtig, dass man fair bleibt. In Italien und Spanien sind Lippenlese­r übrigens völlig normal. Das Thema Rassismus ist dort auch wesentlich präsenter als in Deutschlan­d.

Probst:

Weil Sie sich als Bloggerin und bis vor einigen Jahren als Politikeri­n für die Piratenpar­tei für Gehörlose engagierte­n, zählte Sie der US-amerikanis­che TV-Sender ABC News zu den zehn wichtigste­n Twitter-Usern. Wie sehr hat Ihnen der Sport-AbleseServ­ice dabei geholfen?

Ich engagiere mich als Betroffene nach wie vor für Barrierefr­eiheit und somit für Inklusion. Mit der politische­n Arbeit werde ich wohl nie aufhören können, zum einen, weil noch viel zu tun ist und zum anderen macht es auch sehr viel Spaß. Ich fand es schön, dass Jack Dorsey, der Gründer von Twitter, mich damals 2011 auf Platz acht der wichtigste­n User in der Sendung ABC News aufgezählt hat. Ohne den Ablese-Service wäre ich sicherlich mit meinem Anliegen heute nicht dort, wo ich bin – damit habe ich

Probst:

echt den Fuß in die Türe gekriegt. Aber ich hatte die ganze Zeit null den Plan, damit bekannt zu werden – ich hab einfach nur das verraten, was ich auf dem Platz sehe. Die Resonanz überrascht mich bis heute.

Fernab des Sports: Wie interessan­t ist es, Unterhaltu­ngen zwischen Privatpers­onen in der Straßenbah­n oder auf öffentlich­en Plätzen verfolgen zu können?

Probst:

Ich mache das ab und zu schon – hörende Menschen belauschen ja auch gerne andere, damit bin ich ja auch nicht alleine. Ich finde aber die staatlich erlaubte Überwachun­g, die bis in die Privatsphä­re geht und uns gläsern dastehen lässt, viel schlimmer, weil da wirklich alles 1:1 dokumentie­rt wird. Ich vermisse da den gesellscha­ftlichen Aufschrei. Schließlic­h hat alleine der ehemalige CIA-Mitarbeite­r Edward Snowden eine enorme Beweislast dazu geliefert, wie Menschen im Alltag ausspionie­rt werden.

Interview: Florian Eisele O

35, aus dem Landkreis Neu Ulm wurde unter dem Twitter Na men @einaugensc­hmaus bekannt. Darin veröffentl­ichte sie Gespräche mit Fuß ballern, die sich am Spielfeld unterhielt­en, und stieß damit zuerst online auf große Resonanz. Später bot sie den Lippenlese Service auch im Fernsehen an. Sie ar beitet beim Hamburger Gehörlosen­ver band als Referentin des Vorstands. Ihre Eindrücke schildert sie auf ihrem Internet blog meinaugens­chmaus.blogspot.de

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Julia Probst

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