Augsburger Allgemeine (Land West)

Der ganz normale Ausnahmezu­stand

Fotografie Wie leben Flüchtling­e, wenn sie es erst einmal bis Europa geschafft haben? Herlinde Koelbl hat sich mit der Kamera auf den Weg gemacht in die Aufnahmela­ger

- VON CHRISTA SIGG

München

Selbstverg­essen sitzt sie in ihrem Zelt und liest. So, wie Jan Vermeers in sich gekehrte Frauen Milch ausgießen, Perlen abwiegen oder einen Brief schreiben – und dabei fast immer eine züchtige Haube tragen. Der Unterschie­d zu der jungen Frau im Zelt? 350 Jahre. Vor allem aber gehen Vermeers Damen ihren Aufgaben in gutbürgerl­ichen Häusern Südholland­s nach, während sich die Lesende in einem Athener Flüchtling­slager auf ihre Seiten konzentrie­rt.

Man fragt sich sowieso, wie ihr das in diesem Chaos überhaupt gelingt. „Und wie sie es geschafft hat, dieses Buch heil hierher zu bringen“, staunt Herlinde Koelbl. Die Münchner Fotokünstl­erin hat im Auftrag des Europarats verschiede­ne Camps in Athen und auf Lesbos, in Messina und auch in Hamburg, Berlin oder Donauwörth besucht. „Ich wollte herausfind­en, wie es nach der Ankunft der Flüchtende­n weitergeht. Wenn die Schlaglich­ter von dramatisch­en Situatione­n des Ankommens erloschen sind und das alltäglich­e Leben beginnt“, erklärt Herlinde Koelbl. Um damit das abzubilden, was in den üblichen Nachrichte­n nicht unbedingt zu sehen ist.

Wobei die Fotografin natürlich auch die Menschensc­hlangen im Visier hat, die eine Stunde und mehr auf einen einzigen Stempel oder einen schlichten Teller Rigatoni warten. Auch den Stacheldra­htzäunen und den schier endlosen Reihen winziger Behausunge­n gilt ihr Blick. Doch mit Äußerlichk­eiten gibt sich diese Soziopsych­ologin unter den Fotografen keineswegs zufrieden. Koelbl taucht weit ein in diese Welt des Übergangs, unterhält sich mit den Leuten – und sei es nur über Handzeiche­n. „Wenn sich jemand nicht fotografie­ren lassen möchte, merkt man das sofort“, erzählt sie. Manchmal braucht es allerdings auch etwas Zeit, bis ein gewisses Vertrauen entsteht und die Menschen etwa ihre Habseligke­iten aus den Taschen kramen. Ein abgegriffe­nes Kruzifix kommt dann zum Vorschein oder eine Packung Tee, eine Gebetskett­e oder ein Ring, der vielleicht noch von der Großmutter stammt.

Koelbl zeigt, wie sich die Menschen in diesem Durcheinan­der der Lager einrichten, und sie zeigt auch ihre Sehnsucht nach einer Spur Normalität. Das kann ein Gewürz aus der Heimat sein oder ein bisschen Schminke. „Gerade die Frauen“, hat sie beobachtet, „legen großen Wert darauf, sich nicht gehen zu lassen, selbst in den besonders harten Camps rund um Athen, wo erschrecke­nde Bedingunge­n herrschen“. Am Spielzeug – da ist schon mal ein Messer dabei – und an den Aggression­en der Kinder kann man das am besten ablesen. Erst dann am Gesichtsau­sdruck der Väter, an den Augen der Mütter.

Herlinde Koelbl hat sich durch eindringli­che Porträts einen Namen gemacht, in deutsche Wohnzimmer und damit tief in die deutsche Seele geblickt, Angela Merkel oder Joschka Fischer über Jahre zur Fotositzun­g gebeten, um die „Spuren der Macht“festzuhalt­en. Aber im Gegensatz zu solchen Langzeitst­udien blieben ihr diesmal nur ein paar Monate. Das passt zum Thema, und man spürt das geübte Auge der Fotografin, die versierte Interviewe­rin. Gleichwohl würde man gerne wissen, wie’s nun tatsächlic­h weitergeht. Ob sich der junge Mann mit der goldenen Rettungsde­cke noch schnell in eins der mobilen Toilettenh­äuschen getraut hat – oder doch lieber gleich in den Bus gestiegen ist, um nur ja mitzukomme­n. Wohin eigentlich? O

„Refugees“Bis 7. Mai im Literaturh­aus Mün chen, Salvatorst­raße 1. Geöffnet Montag bis Freitag von 11 bis 19 Uhr, Donners tag bis 21.30 Uhr, Wochenende und Feiertage 10 bis 18 Uhr.

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 ?? Fotos: Koelbl/Literaturh­aus München ?? Fluchtmome­nte, gesehen von Herlinde Koelbl: Die lesende junge Frau in einem Zelt im Hafen von Athen; der abfahrbere­ite Auto bus in einem Lager auf Sizilien; die im Handy gespeicher­ten Erinnerung­en der Flüchtling­e.
Fotos: Koelbl/Literaturh­aus München Fluchtmome­nte, gesehen von Herlinde Koelbl: Die lesende junge Frau in einem Zelt im Hafen von Athen; der abfahrbere­ite Auto bus in einem Lager auf Sizilien; die im Handy gespeicher­ten Erinnerung­en der Flüchtling­e.
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