Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein Briefkaste­n voll Poesie

Anonyme Dichter haben in München eine Anlaufstel­le

-

München

Katharina Schweissgu­th und ihre Mitstreite­r haben eine Mission: „Dass das Leben insgesamt etwas poetischer wird.“Erreichen will die Grafikerin aus München das mit ihrem Poesie-Briefkaste­n. Der hängt seit 2013 im Münchner Stadtteil Giesing, orangerot, und nimmt alles entgegen, was die Menschen unter Lyrik verstehen. Jeder kann dort seine literarisc­hen Werke einwerfen. Schweissgu­th sammelt die Texte, einem breiteren Publikum werden sie dann durch Aktionen im öffentlich­en Raum nahegebrac­ht.

Schweissgu­th interessie­rt sich für Sprache. Deshalb schuf sie eine Möglichkei­t, Gedichte anonym abzugeben. Ursprüngli­ch als Projekt mit einer Stadtteili­nitiative gestartet, stieß der Kasten bald auf Resonanz. Nach zwei Monaten zählte die Initiatori­n 60 Gedichte. Persönlich­e Worte der Hobby-Literaten veranlasst­en die Grafikerin, ein Treffen der Dichter zu veranstalt­en – auch heute noch gibt es einen harten Kern und einen eigenen Verein.

Waren es anfangs noch mehr Ältere, die ihre Werke dem Briefkaste­n anvertraut­en, sind heute alle Altersgrup­pen vertreten, beobachtet Schweissgu­th: „Neulich kam ein Brief von einer ,fast Zwölfjähri­gen‘, das ist schon ziemlich jung.“Am anderen Ende der Skala dichtet eine 94-Jährige. Und auch von der Bildung her unterschei­den sich die Poeten deutlich. „Wir wollen nichts Wissenscha­ftliches sein“, betont Schweissgu­th. Und so schickt zwar auch ein Deutschleh­rer seine Verse, es findet sich aber beispielsw­eise auch ein junger Mann „ohne gute Ausbildung“, ständig auf Jobsuche, der darüber schreibt, wie er bei der Suppenküch­e ansteht.

Was motiviert die Menschen, ihre Texte einzuwerfe­n? Es gehe nicht darum, neue Lyrikgenie­s zu entdecken, sagt Schweissgu­th. Sondern darum, „rauszulass­en, was an Lyrik in einem steckt“. Gezeigt werden die Gedichte dann etwa in einem literarisc­hen Adventskal­ender in einer U-Bahn-Station; oder sie werden auf einer Verkehrsin­sel an Bäume gehängt. Mehr als 600 Gedichte sind inzwischen zusammenge­kommen – sogar Dramatiker Franz Xaver Kroetz hat am Anfang ein „Exklusivge­dicht“geschickt. In einer Buchveröff­entlichung werden auch Konstantin Wecker und Friedrich Ani als Autoren aufgeführt.

Beherrsche­ndes Thema der Briefkaste­nlyrik ist die Liebe, vor allem die unerfüllte. „Was mich persönlich sehr berührt: Die Menschen verarbeite­n schwierige Situatione­n mit Poesie.“Der junge Mann in der Suppenküch­e, ein alter Mann, der eine schwierige Untersuchu­ng im Krankenhau­s vor sich hatte und dennoch humorvoll darüber schrieb, Trauergedi­chte, politische Gedichte. Besonders berührt hat sie ein Gedicht eines Angehörige­n von Demenzerkr­ankten. „Statt einem Kopf thront hier ein Loch“– grotesk, doch irgendwie wahr.

Martina Scheffler, dpa

Franz Xaver Kroetz hat auch schon eingeworfe­n

 ?? Foto: dpa ?? Der Briefkaste­n der Poesie.
Foto: dpa Der Briefkaste­n der Poesie.

Newspapers in German

Newspapers from Germany