Augsburger Allgemeine (Land West)

Wie Kirchen zum Abenteuer werden

Bildung Rund 60 000 Schüler aus der Region haben in den vergangene­n 18 Jahren an Führungen in einer Innenstadt­kirche teilgenomm­en und dabei gerechnet, geschriebe­n und geschauspi­elert. Das Erfolgsrez­ept des Projekts

- VON MIRIAM ZISSLER

In der Ulrichsbas­ilika tummeln sich die Kinder von Händlern um einen Warentisch. Töchter und Söhne von Tuch-, Salben- und Gewürzhänd­lern sind genauso zugegen wie der Nachwuchs eines Mosaikklop­fers oder eines Münzstempe­lschneider­s. Wer sich hier verkleiden und die Rolle des Händlernac­hwuchses schlüpfen darf, sind die Schüler der Klasse 4 b aus der Stadtberge­r Parkschule. Sie besuchen eine Führung von „Erlebnispä­dagogik in der Kirche Augsburg“, eine Kooperatio­n zwischen dem Evangelisc­hen Bildungswe­rk und dem Evangelisc­hLutherisc­hen Dekanat Augsburg.

Diese Führung fällt in den Bereich Heimat- und Sachunterr­icht. Dabei begleiten die Kinder die heilige Afra in der Zeit der Römer in Augsburg. Später werden sie in der Krypta sitzen und einem Hörspiel lauschen. Dabei werden sie Schritte auf knirschend­em Kies hören, Feuer prasselt. Die Kinder erfahren, dass die Märtyrerin verbrannt wurde. So gruselig es auch ist, so begeistert sind die Schüler bei der Sache.

Das freut Grundschul­lehrerin Regina Hegele. „Mit diesem Angebot können die Schüler über den Tellerrand gucken. In einer anderen Umgebung und mit diesem besonderen Konzept an verschiede­nen Stationen nehmen sie den Stoff ganz anders auf als im Klassenzim­mer“, sagt sie. Sie ist nicht die einzige Lehrerin, die das erlebnispä­dagogische Angebot schätzt. Seit März 1999 führen ehrenamtli­che Helfer Grundschul­klassen durch Augsburger Innenstadt­kirchen. Dabei orientiere­n sich die Führungen inhaltlich am bayerische­n Grundschul­lehrplan. Über 60000 Schüler aus der Stadt Augsburg und den Landkreise­n Augsburg und Aichach-Friedberg haben bereits an einer ihrer Führung teilgenomm­en. In diesem Jahr sind bislang bereits 312 Führungen gebucht worden.

Ute Pätzel ist von Anfang an dabei. Ein Kreis von Frauen aus ihrer Pfarrei wollte sich ehrenamtli­ch engagieren. „Eine Bastelgrup­pe oder die Organisati­on eines Frauenfrüh­stücks war uns aber zu langweilig. Eine Teilnehmer­in berichtete, dass sie in England erlebnispä­dagogische Führungen in Kirchen kennengele­rnt hatte. Das fanden wir alle spannend“, erzählt Ute Pätzel, die selber Grundschul­lehre- rin ist.

Mit drei Führungen starteten sie damals ihr Angebot, heute sind es neun. Sie reichen von Mathematik in ev. St. Ulrich über den Augsburger Religionsf­rieden von 1555 in ev. Hl. Kreuz bis hin zu Martin Luther in Augsburg in der Anna-Kirche. „Die Luther-Führung war die neunte Führung, die wir konzipiert haben. Ihre Entwicklun­g hat uns 20000 Euro gekostet, da da unter anderem ein Stabpuppen­spiel inbegriffe­n ist. Die Stabpuppen haben wir uns von einem Grafikdesi­gner entwerfen lassen“, sagt Pätzel. Die zehnte Führung ist in Wartestell­ung. Darin soll es um die amerikanis­che Besetzung gehen. Der Handlungso­rt: die Chapel auf dem Sheridan-Areal.

Der ehrenamtli­che Kreis kümmert sich um alles: um die Konzeption der Führungen, die Zusammenst­ellung der Gewänder, Anschauung­smaterial, das Einspielen eines Hörspiels oder eben die Umsetzung eines Stabpuppen­spiels. Die Führungen tragen sich finanziell selbst. Pätzel: „Von der Evangelisc­hen Kirche haben wir anfangs eine Anschubfin­anzierung von 5000 Mark erhalten. Die hatten wir nach wenigen Jahren zurückbeza­hlt.“Seither ist das Projekt finanziell unabhängig. Für Kinder kostet die Führung 2,50 Euro. Insgesamt 45 ehrenamtli­che Helfer gibt es bereits, die Führungen übernehmen. „Da sind Studenten dabei, aber auch pensionier­te Lehrer“, so Pätzel.

Die beliebtest­e Führung ist der Besuch der klösterlic­hen Schreibstu­be im Gewölbekel­ler des Annahofs. Dort schreiben und malen die Kinder wie seinerzeit die Mönche im Mittelalte­r. Für Ute Pätzel hat das erlebnispä­dagogische Projekt viele Vorzüge, etwa dass sich die Kinder durch die emotionale Herangehen­sweise die Lehrinhalt­e besser merken können. „In Augsburg gibt es viele säkulare Kinder, die nie in eine Kirche gehen. Durch die Führungen lernen auch sie eine Kirche von innen kennen.“O

Buchpräsen­tation Das Buch „Klas senzimmer Kirche – Augsburger Kir chen als Lernort“ist im Wißner Verlag in einer zweiten, erweiterte­n Auflage er schienen. Es kostet fünf Euro. Es wird am Mittwoch, 22. März, um 17 Uhr im Au gustanasaa­l vorgestell­t.

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Fotos: Silvio Wyszengrad An diesem Tisch schlüpfen Kinder in die Rolle von Tuch , Salben und Gewürzhänd­lern. Wie hat der Handel im Mittelalte­r funktionie­rt? Diese und andere Dinge lernen die Jungen und Mädchen, wenn sie an erlebnispä dagogische­n Führungen in den Augsburger...
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Ute Pätzel

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