Augsburger Allgemeine (Land West)
Gewalt gegen Kinder: Hinsehen statt wegschauen
Justiz Hätte das Martyrium des gequälten Neusässer Mädchens erkannt werden müssen? Was Alarmsignale sein können
Sie wurde an einen Stuhl gefesselt und in einer Abstellkammer eingesperrt. Sie musste eine mit Salz eingeriebene Unterhose tragen und zur Strafe scharfe Peperoni essen. Über Jahre haben Eltern aus Neusäß ihre minderjährige Tochter körperlich und seelisch gequält. Doch niemand will davon etwas mitbekommen haben. Das Martyrium kam erst Jahre später ans Licht, als das Opfer zur Polizei ging. Vielleicht hätte jemand Alarm geschlagen – wenn Hinweise erkannt worden wären.
Weil die Warnsignale sehr unterschiedlich sein können, empfiehlt sich die Hilfe von Experten. Zu ihnen gehört Franz Wagner vom Kinderschutzbund-Kreisverband Augsburg. Er unterscheidet bei den Anzeichen grundsätzlich zwischen auffälligem Verhalten von Kindern und Wahrnehmungen von Außenstehenden. Ein ernster Hinweis könne zum Beispiel sein, wenn Kinder eine gefrorene Wachsamkeit („frozen watchfulness“) zeigen. Das heißt: Sie beobachten bewegungslos ihre Umgebung. Wagner: „Sie wirken dann oft verschlossen und zurückgezogen.“Oft würden Kindern von ihren Eltern auch bewusst isoliert, damit sie keinen Kontakt zu Gleichaltrigen aufbauen können.
Anders ist es, wenn Kinder den Kontakt zu Außenstehenden suchen und dann plötzlich erzählen. Das kann im Verein, in einer Einrichtung oder auch im Ferienlager sein. Buben und Mädchen finden einen Trainer oder Betreuer, dem sie sich anvertrauen. Und dann? Wagner rät, die jeweiligen Eltern anzusprechen, um dann im Gespräch mehr zu erfahren. Wie das am besten geht, versucht der Kinderschutzbund zu vermitteln. Der Verein berät beim abgestimmten Vorgehen. Erklärt wird auch, wie wichtig „Ich-Botschaften“sind. Sätze wie „Ich mache mir große Sorgen“oder „Ich sehe Ihr Kind schon lange nicht mehr“könnten bei Eltern auch eine Erleichterung bedeuten, denn sie zeigen: Sie werden mit ihren Problemen wahrgenommen. „Auch Lehrer müssen genau hinschauen und dürfen auf keinen Fall untätig bleiben“, sagt Schulamtsleiterin Renate Haase-Heinfeldner. Sie rät zu einer äußerst sensiblen Vorgehensweise. Dabei müssten unbedingt Schulleitung und andere zur Verfügung stehende Fachkräfte ins Boot geholt werden. „Lehrer müssen das Netzwerk der Schule nutzen“, sagt Haase-Heinfeldner. Jedem müsse klar sein, dass er sich einem großen Balance-Akt aussetzt, der das gegenseitige Vertrauen zwischen Lehrer und Eltern stark erschüttern kann, wenn der Verdacht ins Leere läuft.
Wie schwierig ein Gespräch mit Eltern sein kann, hat die Schulamtsleiterin schon selbst erlebt. Sie weiß: „Man muss sich sehr genau überlegen, wie man es formuliert.“Eltern könnten sich angegriffen fühlen. Und dann sei die vertrauensvolle Zusammenarbeit dahin. „Wir dürfen die Eltern ja nicht verlieren oder die Kinder in eine noch schwierigere Situation bringen. Wir müssen fast wie ein Brückenbauer wirken“, erklärt Haase-Heinfeldner. Eine Brücke kann es zum Beispiel sein, Eltern an eine Organisation oder Fachstelle zu vermitteln, die bei Erziehungsschwierigkeiten weiterhelfen kann.
Von Erziehungsschwierigkeiten war im Fall der Neusässer Eltern nicht die Rede: Sie wurden vergangene Woche wegen Misshandlung Schutzbefohlener nach einer im Gericht getroffenen Absprache zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe und einem Schmerzensgeld in Höhe von 7000 Euro verurteilt. Sobald das Urteil rechtskräftig ist, wird die Staatsanwaltschaft prüfen, ob es zu weiteren Anklagen kommt.