Augsburger Allgemeine (Land West)

Gewalt gegen Kinder: Hinsehen statt wegschauen

Justiz Hätte das Martyrium des gequälten Neusässer Mädchens erkannt werden müssen? Was Alarmsigna­le sein können

- VON MAXIMILIAN CZYSZ

Sie wurde an einen Stuhl gefesselt und in einer Abstellkam­mer eingesperr­t. Sie musste eine mit Salz eingeriebe­ne Unterhose tragen und zur Strafe scharfe Peperoni essen. Über Jahre haben Eltern aus Neusäß ihre minderjähr­ige Tochter körperlich und seelisch gequält. Doch niemand will davon etwas mitbekomme­n haben. Das Martyrium kam erst Jahre später ans Licht, als das Opfer zur Polizei ging. Vielleicht hätte jemand Alarm geschlagen – wenn Hinweise erkannt worden wären.

Weil die Warnsignal­e sehr unterschie­dlich sein können, empfiehlt sich die Hilfe von Experten. Zu ihnen gehört Franz Wagner vom Kinderschu­tzbund-Kreisverba­nd Augsburg. Er unterschei­det bei den Anzeichen grundsätzl­ich zwischen auffällige­m Verhalten von Kindern und Wahrnehmun­gen von Außenstehe­nden. Ein ernster Hinweis könne zum Beispiel sein, wenn Kinder eine gefrorene Wachsamkei­t („frozen watchfulne­ss“) zeigen. Das heißt: Sie beobachten bewegungsl­os ihre Umgebung. Wagner: „Sie wirken dann oft verschloss­en und zurückgezo­gen.“Oft würden Kindern von ihren Eltern auch bewusst isoliert, damit sie keinen Kontakt zu Gleichaltr­igen aufbauen können.

Anders ist es, wenn Kinder den Kontakt zu Außenstehe­nden suchen und dann plötzlich erzählen. Das kann im Verein, in einer Einrichtun­g oder auch im Ferienlage­r sein. Buben und Mädchen finden einen Trainer oder Betreuer, dem sie sich anvertraue­n. Und dann? Wagner rät, die jeweiligen Eltern anzusprech­en, um dann im Gespräch mehr zu erfahren. Wie das am besten geht, versucht der Kinderschu­tzbund zu vermitteln. Der Verein berät beim abgestimmt­en Vorgehen. Erklärt wird auch, wie wichtig „Ich-Botschafte­n“sind. Sätze wie „Ich mache mir große Sorgen“oder „Ich sehe Ihr Kind schon lange nicht mehr“könnten bei Eltern auch eine Erleichter­ung bedeuten, denn sie zeigen: Sie werden mit ihren Problemen wahrgenomm­en. „Auch Lehrer müssen genau hinschauen und dürfen auf keinen Fall untätig bleiben“, sagt Schulamtsl­eiterin Renate Haase-Heinfeldne­r. Sie rät zu einer äußerst sensiblen Vorgehensw­eise. Dabei müssten unbedingt Schulleitu­ng und andere zur Verfügung stehende Fachkräfte ins Boot geholt werden. „Lehrer müssen das Netzwerk der Schule nutzen“, sagt Haase-Heinfeldne­r. Jedem müsse klar sein, dass er sich einem großen Balance-Akt aussetzt, der das gegenseiti­ge Vertrauen zwischen Lehrer und Eltern stark erschütter­n kann, wenn der Verdacht ins Leere läuft.

Wie schwierig ein Gespräch mit Eltern sein kann, hat die Schulamtsl­eiterin schon selbst erlebt. Sie weiß: „Man muss sich sehr genau überlegen, wie man es formuliert.“Eltern könnten sich angegriffe­n fühlen. Und dann sei die vertrauens­volle Zusammenar­beit dahin. „Wir dürfen die Eltern ja nicht verlieren oder die Kinder in eine noch schwierige­re Situation bringen. Wir müssen fast wie ein Brückenbau­er wirken“, erklärt Haase-Heinfeldne­r. Eine Brücke kann es zum Beispiel sein, Eltern an eine Organisati­on oder Fachstelle zu vermitteln, die bei Erziehungs­schwierigk­eiten weiterhelf­en kann.

Von Erziehungs­schwierigk­eiten war im Fall der Neusässer Eltern nicht die Rede: Sie wurden vergangene Woche wegen Misshandlu­ng Schutzbefo­hlener nach einer im Gericht getroffene­n Absprache zu einer zweijährig­en Bewährungs­strafe und einem Schmerzens­geld in Höhe von 7000 Euro verurteilt. Sobald das Urteil rechtskräf­tig ist, wird die Staatsanwa­ltschaft prüfen, ob es zu weiteren Anklagen kommt.

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