Augsburger Allgemeine (Land West)
Wie ein Baby laute Buben verändern kann
Pädagogik Der kleine John spricht noch kein Wort. Doch in Langenneufnach bringt er Kindern Einfühlungsvermögen bei
Dass bereits am frühen Morgen im Kinderhaus St. Martin in Langenneufnach wildes Gedränge um den Kalender herrscht, scheint für einen Außenstehenden sehr ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher scheint es, wenn durch leises Flüstern verbreitet wird, dass John heute kommt, und die Augen der Kinder leuchten.
John ist ein Baby, neun Monate alt. Einmal in der Woche kommt Isabelle Perschk mit ihrem Sohn in die Tagesstätte. Die Kinder sehen zu, wie sie mit ihm dort einige Zeit verbringt. Und sie sehen, wie er sich entwickelt, wie er das Krabbeln lernt und den Augenkontakt zu ihnen sucht.
Dahinter steckt das pädagogische Konzept Babywatching. Denn es wurde festgestellt, dass Kinder ruhiger werden und mehr Einfühlsamkeit entwickeln, wenn sie oft eine Mutter im Umgang mit ihrem Säugling beobachten können. Das ist durch Studien belegt. In Langenneufnach stellte Kinderhausleiterin Claudia Winkler-Eichinger fest, dass damit nicht nur übermäßig laute Buben, sehr aktive oder gar aggressive Kinder ein sensibles Verhalten lernen. Umgekehrt würden sich auch Buben und Mädchen, die ansonsten wenig Gefühle zeigen oder ängstlich sind, stärker einfühlsam zeigen.
Begonnen hat das in Langenneufnach mit einer ganz normalen Teamfortbildung der Erzieherinnen, die sich sofort von der Idee Babywatching anstecken ließen. „Das müssen wir unbedingt machen“, schwärmte Barbara Zacher der Kinderhausleitung Claudia Winkler-Eichinger vor. Ein großer Vorteil war dadurch geboten, dass Isabelle Perschk, ebenfalls Erzieherin des Kinderhauses St. Martin, zu dieser Zeit bereits schwanger war und mit ihrem John mitmachen wollte.
Grundsätzlich geht es darum, dass besonders unruhigen, zappeligen, aber auch aggressiven Kindern geholfen werden soll. Dazu stand viel Aufklärungsarbeit bevor, und das Kinderhaus holte sich Unterstützung bei Gabriele Wagner, Leiterin der Familienstation in Fisch- ach, die sich sofort für eine Kooperation aussprach. In einem nächsten Schritt wurden zehn Kinder ausgewählt, wobei die Gruppe der Fünfbis Sechsjährigen auch durch emotional gesicherte Kinder ergänzt wurde.
Erfreulicherweise, so die Initiatorinnen, waren auch die Eltern bei einem Infonachmittag dem Langenneufnacher Pilotprojekt gegenüber sehr positiv eingestellt. Anfängliche Bedenken wegen negativer Einflüsse konnten ausgeräumt werden, da sich die Erzieherinnen einer speziellen Weiterbildung unterzogen, um das Projekt fachlich kompetent zu begleiten.
Inzwischen ist die kleine Gruppe ein eingespieltes Team, und die Kinder wie auch die Erwachsenen sind gespannt, welchen Entwicklungsschritt „ihr“John wohl diese Woche zeigen wird.
„Eigentlich passiert gar nichts“, beschreibt Gabriele Wagner die Treffen mit dem Baby und lächelt. „John liegt im Kreis und strahlt die Kinderaugen an, welche ihn beobachten. Die Kinder nehmen gefühlsmäßig Kontakt mit den Augen auf, lächeln und strahlen zurück. Hierbei entstehen unglaublich viele wohltuende Prozesse“, sagte die Mentorin.
Auf der Beobachtungsebene, so erklärt sie, werden Fragen geklärt wie: Was macht das Baby? Was macht die Mutter? Warum verhält sich das Baby so? Wie fühlt sich das für das Baby an?
Auf der Identifikationsebene geht es dann darum, was das beobachtende Kind selbst machen würde, wenn es das Baby wäre. Und bei der Empathie wird über Gefühle gesprochen. So zum Beispiel, wie es sich wohl anfühlt für die Kinder, wenn sie das Baby wären. „Die Kinder sollen Empathie erlernen, indem sie Feinfühligkeit für Handlungen, Gedanken, Motivationen und Gefühle anderen gegenüber erleben und selbstreflektierende Fähigkeiten entwickeln“, erklärt Barbara Zacher.
Sicherheitsmaßnahmen und Regeln schaffen den Rahmen, sagt sie. Im Bewegungsraum werden hierfür Turnmatten ausgelegt, und die Kinder sitzen im Halbkreis um John. Die Kinder dürfen nicht auf die Matten und John nicht berühren. „Es entstand eine unglaublich homogene Gruppe, wo unsere Beobachter die kleinsten Bewegungen aufnehmen und beschreiben“, sagt Claudia Winkler-Eichinger. Mittlerweile sei es für die Kinder eine Selbstverständlichkeit geworden, zu beobachten. „Auch ist es erstaunlich, wie sensibel und feinfühlig dieser Urinstinkt des Menschen bei den Kindern ausgeprägt ist. Dies nehmen sie natürlich in die Kindergartengruppe und nach Hause mit“, sagt Winkler-Eichinger.
Begleitet wird John seit seinem vierten Monat. Und zwar so lange, bis er ein Jahr alt ist. Hierbei erleben die Kinder alles mit – vom ersten Zahn bis zur ersten Drehung auf den Bauch. In den Ferien ist jeweils Pause, und nach Ostern gibt es mit allen Eltern ein erstes Treffen. Claudia Winkler-Eichinger: „Es bleibt also spannend, was bis zum Sommer – auch ganz ohne eigentliche Aktion – so alles passieren wird.“
„Es ist erstaunlich, wie sensibel und feinfühlig der Urinstinkt des Menschen bei den Kindern ausgeprägt ist. Dies nehmen sie nach Hause mit.“Claudia Winkler Eichinger