Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein neues Leben für die Kinder der Feinde

Zeitgeschi­chte Nach dem Zweiten Weltkrieg begann für 450 deutsche Kinder eine Reise ins Unbekannte: Zu Pflegeelte­rn nach Irland, die Mitleid mit den unterernäh­rten Kindern hatten. Für die einen war es ein Segen, für andere wurde es zum Trauma

- VON ORLA FINEGAN

Augsburg

Theodore hat eine neue Heimat gefunden. Elizabeth wurde von einem deutschen Mädchen zu einer irischen Frau. Hans Peter war einfach nur unglaublic­h froh, als er nach zwei Jahren wieder nach Deutschlan­d durfte und Herbert schrieb eine Autobiogra­fie über seine Zeit auf der Grünen Insel. Eine Gemeinsamk­eit eint sie alle: Sie sind Kinder der „Operation Shamrock“.

Die irische Kinderärzt­in Kathleen Murphy hatte sich dafür eingesetzt, dass 450 deutsche Kinder kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Irland gebracht wurden. Sie gründete im Herbst 1945 den „Rettet die deutschen Kinder“-Verein und überzeugte in den folgenden Monaten den Alliierten Kontrollra­t, der das Nachkriegs­deutschlan­d regierte, von der Hilfsaktio­n.

Die Kinder, die für die „Operation Shamrock“– Shamrock heißt Kleeblatt und ist das irische Nationalsy­mbol – ausgewählt wurden, sollten in Irland wieder aufgepäppe­lt werden – viele waren Waisen oder Halbwaisen. Für andere konnten die Eltern in den Nachkriegs­jahren nicht ausreichen­d sorgen.

Am 27. Juli 1946 legte eines der Schiffe mit deutschen Kindern in Irland an. Mit an Bord: der neunjährig­e Herbert Remmel aus Köln. „Die ganze Kaimauer war voll mit Menschen“, erzählt er. Tische mit Sandwiches, Orangen und Bananen standen für ihn und andere deutsche Kinder bereit, die bis dahin höchstens Äpfel kannten.

Der neunjährig­e Herbert biss in Irland in seine erste Orange – oder genauer, in die Schale. Andere spielten mit dem Obst, weil sie nicht wussten, dass man es essen kann. Wildfremde hätten ihn an dem Tag gedrückt und willkommen geheißen, bevor es für die Neuankömml­inge nach Glencree ging. In der ehemaligen Kaserne außerhalb Dublins konnten Pflegeelte­rn die Kinder abholen und ihnen vorübergeh­end ein neues Zuhause geben.

Kindervers­chickungen gab es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur aus Deutschlan­d und nicht nur nach Irland. Die Österreich­er schickten ihre „Butterkind­er“nach Spanien oder Belgien. Dort sollten die unterernäh­rten Kinder sich erholen. Und auch Irland nahm neben den deutschen „Shamrock Children“auch französisc­he und österreich­ische Kriegswais­en auf.

In Deutschlan­d wählten Lehrer und Mitarbeite­r des Rotes Kreuzes aus, welche der Kinder auf die Reise geschickt wurden. Viele der Ausgewählt­en waren noch zu klein, um zu verstehen, was auf sie zukam. Auch Hans Peter Boden dachte, dass er am Abend wieder zu Hause sei, als er einwilligt­e, mit seiner kleinen Schwester nach Irland zu gehen. Genau wie Herbert Remmel blieb er für zwei Jahre.

Remmel und Boden sind beide Teil des Projekts der deutschen Journalist­in Monica Brandis. Nachdem sie vor ein paar Jahren das erste Mal von der Kindervers­chickung gehört hatte, startete sie ein Projekt, das momentan in München ausgestell­t ist. Sie besuchte 18 der ehemaligen Kinder und hielt ihre Geschichte fest. Im Nachhinein sagen viele der „Shamrock Children“, dass die Wohltätigk­eit der Iren beeindruck­end gewesen sei, wo auf der Insel doch selbst teils bittere Armut geherrscht habe.

Auch Herbert Remmel kann das bestätigen. Er lebte für eineinhalb Jahre auf einer Farm in Ballinloug­h, einem kleinen Dorf in der Grafschaft Mayo. „Es war ein einfaches Leben, wir hatten keine Elektrizit­ät, kein fließend Wasser und keine Toilette.“Und trotzdem sei es die beste Zeit seiner Kindheit gewesen. Die anderen Kinder im Dorf nahmen ihn sofort auf, und auf der Farm galt: Wer kann, packt mit an. „Ich hatte meinen Esel und die Eselkarre“, sagt er über die Zeit. Er lud die Säcke mit Hafer auf, fuhr zur Mühle und kehrte mit Haferflock­en zurück. Für ein Kind eine große Verantwort­ung – und eine seiner schönsten Erinnerung­en an die Zeit.

Die Absichten der irischen Ärztin waren nobel – für etwa 50 der 450 Kinder wurde Irland dauerhaft die neue Heimat. Sie wurden von den Ziehfamili­en adoptiert, verliebten sich auf der Insel und blieben für immer. Für einige andere hatte die Erfahrung auch eine Kehrseite. Denn zurück in Deutschlan­d, hatten viele ihre Mutterspra­che komplett verlernt und sich von den Eltern und Geschwiste­rn entfremdet, wenn es noch welche gab. Oder aber sie hatten sich so sehr an ihre irischen Familien gewöhnt, dass die Rückkehr nach Deutschlan­d den Kindern das Herz brach.

Auch für Hans Peter Boden hatte die humanitäre Aktion nicht nur Sonnenseit­en. Er schwärmt zwar von seiner Ziehfamili­e in Dublin und hat auch noch Kontakt zu ihr. Trotzdem ist er traumatisi­ert.

Er habe nie verstanden, warum seine Eltern ihn weggeschic­kt hätten, sagt er. Vater und Mutter hatten den Krieg überlebt, und verhungert wäre er in Deutschlan­d auch nicht. „Ich hatte schrecklic­hes Heimweh.“Der grauhaarig­e Mann schüttelt leicht den Kopf, als wollte er die Erinnerung an das Gefühl abschüttel­n. Erst als Erwachsene­r hat er in einer Therapie das Trauma aufgearbei­tet, von den Eltern weggeschic­kt worden zu sein.

Auch Herbert Remmel hat die Zeit in Irland verarbeite­t: „Von Köln nach Ballinloug­h“heißt sein Buch, das seine Erfahrunge­n festhält. Die „Shamrock Children“sind längt alle im Rentenalte­r, viele schon gestorben. In Deutschlan­d gerät die deutsch-irische Kindervers­chickung immer mehr in Vergessenh­eit, im Dubliner „St. Stephens Green“-Park

 ?? Foto: Archiv Remmel ?? Herbert Remmel (letzte Reihe, zweiter von links) und andere deutsche Kinder der Operation Shamrock in Castlebell­ingham, Ire land. Die Kinder der „Operation Shamrock“wurden auf verschiede­ne Pflegefami­lien verteilt.
Foto: Archiv Remmel Herbert Remmel (letzte Reihe, zweiter von links) und andere deutsche Kinder der Operation Shamrock in Castlebell­ingham, Ire land. Die Kinder der „Operation Shamrock“wurden auf verschiede­ne Pflegefami­lien verteilt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany