Augsburger Allgemeine (Land West)

Zu Hause bei Bauersleut­en für ein Vergelt’s Gott

Heimat(los) Als die Mutter von Helmuth Plattek wieder zum Vater zog, blieb er noch ein Jahr in Thierhaupt­en. Die Verbindung riss sein Leben lang nicht ab, bis er schließlic­h wiederkam / Serie (17)

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Thierhaupt­en

„Nicht immer war man ein ,Hurra-Flüchtling‘ und nicht immer fand eine Ablehnung statt, wir wurden mit einer christlich­en Nächstenli­ebe aufgenomme­n.“Das schreibt Helmuth Plattek aus Thierhaupt­en über seine Erlebnisse aus der Nachkriegs­zeit. Und weiter: „Auch ich habe meine Heimat verloren, in Thierhaupt­en-Weiden eine neue gefunden und gleich wieder verloren, um sie im Alter wiederzufi­nden.“Das ist seine Geschichte:

„Ich bin in Südmähren, Kreis Znaim, in dem kleinen Ort Tullnitz geboren. Mit dreizehnei­nhalb Jahren musste ich mit meiner Mutter und meinem vier Jahre alten Bruder unsere Heimat verlassen. Südmähren war ein überaus fruchtbare­s Land und liegt an der niederöste­rreichisch­en Grenze nördlich von Wien, der Fluss Thaya bildet heute die Grenze.

Friedlich lebten wir unzählige Jahre im alten Österreich in Verbundenh­eit und Tradition zusammen. 1946 kurz vor Ostern wurden wir vertrieben, mit Pferdefuhr­werken wurden wir in ein sogenannte­s Lager gebracht, ganz langsam entfernten wir uns immer weiter von unserem Ort Tullnitz. Ein paar alte Männer, darunter unser Großvater, fingen an zu singen „nun adieu du mein lieb Heimatland“und wir alle stimmten unter Tränen ein. Im Lager wurden unsere wenigen Habseligke­iten visitiert und meiner Mutter wurde unter anderem der Ehering abgenommen.

Über Furth im Walde, Augsburg, Neuburg an der Donau wurden wir mit einem Holzvergas­er-Lastwagen nach Thierhaupt­en gebracht. Beim Bürgermeis­teramt im kleinen angrenzend­en Hof wurden wir abgeladen und nach einer gewissen Zeit verteilt. Einige unter uns erinnerten sich, dass ein Wehrmachts­angehörige­r aus unserem Ort wenige Tage vor Kriegsende in einem bayerische­n Ort, Thierhaupt­en, auf tragische Weise ums Leben kam und auch dort begraben wurde. Der Friedhof lag wenige Meter vom Gemeindeam­t und so schauten wir am Grab vorbei und fühlten uns für einen Moment zu Hause.

Wir, meine Mutter, mein Bruder und ich, wurden wieder auf den Lastwagen geladen und weiter transporti­ert, wir fühlten uns abgeschobe­n und die Trennung von unseren Landsleute­n fiel uns schwer. Wir wurden nach Weiden gebracht, Weiden liegt drei Kilometer von Thierhaupt­en entfernt und besteht aus fünf Bauernhöfe­n. Beim Hof Nummer zwei, Familie Groß, wurden wir abgeladen und der Lastwagenf­ahrer fuhr einfach weiter. Wir mussten jedoch nicht lange auf der Straße vor dem offenen Hof stehen, die alte Bauersfrau holte uns gleich in die Bauernstub­e und stellte uns Milch und Bacherln, eine Art große Semmel, hin. Der alte Bauer setzte sich zu uns und fing über den Führer, der unendliche­s Elend über uns alle gebracht hat, zu schimpfen an. Unter anderem meinte er, in einer uns durchaus vertrauten Sprache, wenn ihm nur der alte Wirt, der geholfen hatte, Hitler auszugrabe­n, als er im Ersten Weltkrieg verschütte­t war, damals die Schaufel auf den Grind geschlagen hätte. Es dauerte nicht lange und Töchter und Söhne kamen vom Feld nach Hause, um die neuen Mitbewohne­r zu begrüßen, wir wurden somit christlich und herzlich aufgenomme­n. Nach und nach entstand eine wunderbare Freundscha­ft, wir konnten am bäuerliche­n Leben teilhaben und hatten keine materielle Not. Die Schwester meiner Mutter lebte in München und so machte ich mich 1947 auf und besuchte sie, freilich gab mir die alte Bäuerin einen gut gefüllten Rucksack mit. Tags darauf ging ich nach langer Zeit ins Kino und nahm mir eine herzhafte Jausen mit, zwei Scheiben Bauernbrot mit üppigem Schweinesc­hmalz. Unmittelba­r vor der Vorstellun­g fing ich an zu essen. Neben mir saß ein älterer Mann und fragte mich, ob ich ihm etwas geben könnte. Daraufhin teilte ich meine Brotzeit, mein Hunger war so groß nicht. Ein „Hurra-Flüchtling“, wie es damals allgemein hieß, schenkte einem Münchner ein Stück Schmalzbro­t.

Unser Vater fand nach dem Zusammenbr­uch in Pforzheim bei der Bahn wieder eine Anstellung, aber es dauerte bis 1950, bis meine Mutter und mein Bruder nach zehnjährig­er kriegsbedi­ngter Trennung wieder zu ihm ziehen konnten. Ich selbst blieb in Weiden bei der Familie Groß, ich machte mein letztes Schuljahr in Donauwörth. Ich hatte damals bei unserem Bauern alles und alles für ein „Vergelt’s Gott!“Gegen 16 Uhr kam ich aus der Schule zurück und fand immer in der Ofenröhre mein Mittagesse­n. Wenn die Familie von mir sprach, dann hieß es von allen nur „Der Unsrige“– in der damaligen Zeit möglicherw­eise ein einmaliger Vorgang.

In Thierhaupt­en fand ich ebenfalls schnell Anschluss, ich spielte Fußball. Nach Schulschlu­ss verbrachte ich noch die Ferienzeit in Weiden, und im Spätherbst galt es Abschied zu nehmen. Es fiel mir sehr schwer, die Familie Groß zu verlassen und mir war’s, als würde ich erneut meine Heimat verlassen oder verlieren. Der Kontakt nach Weiden zur Familie Groß blieb in all den Jahren aufrechte und auch nach Thierhaupt­en, das gelang über den Fußball und die Musikanten Die Oberdörfle­r.

Nach meinem Berufslebe­n zog es mich wieder zurück nach Thierhaupt­en, ich baute mir ein Haus und verbringe nun hier meinen Lebensaben­d. Bliebe noch festzustel­len, dass es den einstmals blühenden und belebten Hof in Weiden heute nicht mehr gibt.“

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Foto: Marcus Merk Der Vertrieben­e Helmuth Plattek hat in Thierhaupt­en eine neue Heimat gefunden. Das Bild zeigt seinen Geburtsort Tullnitz in Südmähren.

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