Augsburger Allgemeine (Land West)

Wir lernen noch

Elternsein ist das permanente Balanciere­n an der Grenze zur Überforder­ung. Aber man erwirbt auch neues Überlebens­wissen

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN

Eltern lernen ständig dazu. Der Tag beginnt zu einer Zeit, in der man früher, zumindest am Wochenende, vielleicht erst ins Bett gegangen ist. Dafür weiß man jetzt, dass samstags um 7 Uhr eine tolle Zeit ist, Semmeln zu holen, will man nicht in der Schlange stehen. Gut zu wissen ist auch, dass angekaute Brotkrumen und Gemüsebrei­spritzer zusammen mit einigen Schlucken Wasser zu einer interessan­t gefärbten, hartnäckig haftenden Kruste trocknen, die den Boden unter dem Esstisch in nur wenigen Tagen versiegelt.

Man lernt auch, dass man besser aufpassen muss, um frühmorgen­s oder nachts nicht im Flur mit seiner Frau zusammenzu­rauschen – weil beide durch die Wohnung tappen, aber keiner sich getraut hat, Licht zu machen, um nur ja nicht den Kleinen zu wecken, der in seinem Zimmer ja mit offener Tür schläft… Ist halt so. Kriegt man in den Griff. An den meisten Tagen zumindest. Lernen hält jung. Auch wenn man sich im Prozess oft ziemlich alt fühlt.

Wer Kinder hat, häuft aber nicht nur praktische­s Überlebens­wissen an (Schlafe, wenn das Kind schläft!). Man lernt auch viel über andere Menschen und das Zusammenle­ben mit ihnen. Das geht schon los, wenn das Kind noch auf dem Weg ist. So richtig registrier­t man es erst, wenn man nach einigen Wochen wieder aus dieser merkwürdig wattierten Parallelwe­lt auftaucht, in die hinein man als neue Familie direkt aus dem Krankenhau­s entlassen wird. Überall sind wohlmeinen­de Menschen. Oder, in der Mehrzahl der Fälle, einfach nur meinende. „Ihr müsst ihm Handschuhe anziehen bei dem Wetter.“Aha. „Das ist aber nicht normal, dass der in diesem Alter tagsüber noch so lange schläft.“So so. „Kinder bleiben die ersten Jahre am besten bei der Mutter. Sonst muss man ja keine bekommen, wenn man nicht für sie da sein will.“Danke für das Gespräch. Jeder hat eine Meinung dazu, wie Eltern mit ihren Kindern umzugehen haben und wie beide sich zu verhalten haben … Das ist ja auch okay. Alle urteilen über alle. Nur leider vergessen viele: Vielleicht wollen die anderen diese Meinung gar nicht wissen. Stichwort „gute Kinderstub­e“. Weiß man eigentlich. Hat man hierzuland­e aber vielleicht etwas verlernt, weil lange Zeit so wenige Kinder auf die Welt kamen. Lernen, lernen, lernen. Aber alles Nippes im Vergleich dazu, was Kinder während der ersten Monate für Fortschrit­te machen. Zunge, Lippen, Kehlkopf und zig Muskeln so koordinier­en, dass aus dem Mund plötzlich Töne kommen, nicht nur Schreie. Wahnsinn, wenn man so darüber nachdenkt. „Bababaaaba­baaba ...“Bis er eines morgens auf dem Wickeltisc­h aus dem Nichts plötzlich deutlich „Papa“sagt. Gänsehaut. Und gelernt: Kinder können einen mit ganz wenig sehr glücklich machen.

Matthias Zimmermann,

37, ist seit 15 Monaten Vater und kann Windeln im Dunkeln wechseln.

*** Unsere Kolumne finden Sie jeden Donnerstag an dieser Stelle. Nächste Woche: „Radlerlebe­n“mit Ansichten und Geschichte­n eines Radfahrers.

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