Augsburger Allgemeine (Land West)
Präzision schlägt Kraft, Timing schlägt Tempo
Serie (6) Beim Judo geht es um mehr als die pure Kraft. Gefragt sind Technik und Köpfchen. In Ellgau trainiert man mit einem Schwarzgurt, der weit über den Landkreis hinaus bekannt ist
Es ist Fastenzeit, der Frühling kommt, und sie ist wieder da: unsere Serie „Fit wie ein Turnschuh“. Im Selbstversuch testen wir in den kommenden Wochen verschiedene Möglichkeiten, sich fit zu halten, und geben anhand unserer dabei gesammelten Erfahrungen Tipps.
Ellgau Judo und ich – diese Geschichte ist schnell erzählt. Eigentlich gibt es zwischen uns nur einen Berührungspunkt. An diesen aber erinnere ich mich umso eindrucksvoller zurück. Vor zwei Jahren kam ich als Reporter in den Genuss, den Olympiasieger von Peking, Ole Bischof, beim Training zu begleiten. Spielerisch, ja sogar leicht sahen die vorgeführten Würfe, Hebel und Griffe aus. Ob ich das auch kann? Für meinen ersten praktischen Versuch in der neben Karate wohl beliebtesten Kampfsportart suche ich deshalb die Nähe eines weiteren Meisters: Friedrich Wetzel aus Ellgau ist ein wahres Urgestein in der Judo-Szene und für die erste Einheit mein Trainer.
Kaum in der Ellgauer Mehrzweckhalle angekommen, wehen mir Begriffe wie „O-goshi“, „Randori“, „Uke“oder „Tori“entgegen. Ich bin in der Welt der Judoka angekommen. Unweigerlich denke ich beim Judo an weiße Anzüge, schwarze Gürtel, Höflichkeit und Respekt. An Prinzipien wie durch ein Minimum an Aufwand maximale Wirkung zu erzielen oder Siegen durch Nachgeben. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Schon das Anlegen des schweren Judoanzugs aus Baumwolle ist eine Kunst für sich. Zuerst steige ich in die weite Hose, mit Bändchen zurre ich sie an der Seite fest. Dann tausche ich den braunen Gürtel aus meiner Jeans mit dem schwarzen Gürtel von Friedrich Wetzel. „Einfach als kleine Motivation“, raunt der 72-Jährige durch die Umkleidekabine. Beim Binden des Gürtels brauche ich seine Hilfe. Auf Höhe des Bauchnabels doppelt um sich legen, hinten überGelenk kreuzen, vorne ein Ende durch beide Schleifen fahren. „Der richtige Halt ist wichtig“, erklärt mir Wetzel. Schließlich werde in den nächsten knapp 90 Minuten ordentlich am Anzug angepackt, gezerrt und gezogen. Dann geht es in die Halle. Zusammen werden die rutschfesten Matten ausgebreitet – ein festes Ritual, das das Miteinander stärkt. Vor dem ersten Schritt auf die grün-roten Matten heißt es Schlappen ausziehen, dann verbeugen wir uns. Respekt und Höflichkeit für den Sport und das Gegenüber sind im Judo äußerst wichtig und zählen zu den zehn Judowerten des Deutschen Judo-Bundes.
Kurz aufwärmen, den Kreislauf in Schwung bringen. Dann teilt mir Schwarzgurt Wetzel den wohl wichtigsten Rat für das Judo mit: „Kopf vor Kraft: Erst überlegen, dann die Muskeln einsetzen.“Grundlage noch bevor ich zum ersten „Yoko-ukemi“, dem Seitwärtsfallen, ansetze: Fallschule. „Das ist die Basis, nichts ist wichtiger, als richtig zu fallen. Das verhindert Schmerzen und größere Schäden“, sagt Wetzel. „Immer mit den Handinnenflächen und der Arminnenseite am Boden aufschlagen, dort ist die Haut fester“, rät er.
Die erste Übung ist noch kein Problem. Wetzel macht es vor: Arm in einer Halbkreisbewegung nach vorne schwingen, Fuß ausfahren und – klatsch – auf die Seite fallen. Direkt im Anschluss kommt Übung Nummer zwei, die Rückwärtsrolle. Anders als im Schulsport gelernt, dürfe der Kopf nicht gerade über den Nackenwirbel abrollen, sondern solle stets schräg bleiben. Das sei gesünder. „Gut gemacht, du bist ein echtes Naturtalent“, lobt der Meister.
Nach den simpel anmutenden Fallbewegungen gehen wir zu den Wurftechniken über. Für den großen Hüftwurf bin ich der sogenannte „Tori“, derjenige, der die Übung ausführt. Mein Partner Wetzel ist der „Uke“. „Rechte Hand an mein Anzu- grevers, mit links packst du außen an meinen Oberarm“, erläutert Wetzel. Meine rechte Hand fährt auf Ukes Rücken, ich ziehe ihn an mich heran. Ich drehe mich so ein, dass beide Beine zwischen denen von Uke sind – sein Bauch berührt nun meinen Rücken. „Jetzt aufbocken wie beim Auto. Die Kraft kommt aus den Oberschenkeln. Nirgends hat man so viel Kraft“, sagt Wetzel. Ein unbehagliches Gefühl beschleicht mich, denn nun soll ich meinen 72-jährigen Trainingspartner über meine Hüfte werfen. „Da passiert nichts, dank der Fallschule“, spricht mir Wetzel Mut zu. Ein Grundwert des Judos blitzt durch: Vertrauen. Genau auf dieses Vertrauen bin auch ich bei der nächsten Übung angewiesen. Denn der Schwarzgurt nimmt mich auf den Arm oder besser gesagt die Schulter – und wirft mich durch den großen Schultersturz zu Boden. „Schon fünf Millimeter vom Boden abgehoben, kann ich alles mit dir machen“, sagt Wetzel. Beim Judo machen sich die Sportler die Hebelwirkung zunutze. Auch gegen größere Gegner besteht damit für kleinere Menschen eine realistische Chance, sich zu behaupten. Ebenso entscheidend ist es, die einzelnen Bewegungen präzise auszuführen, um die physikalischen Kräfte zu verstärken. „Natürlich muss man immer sein Gleichgewicht wahren und fest stehen wie ein Stamm“, betont der Ellgauer. „Du bist bei den Übungen bisher gut dagestanden. Man merkt, dass du mitgedacht hast.“Ein weiterer großer Technikbereich spielt sich am Boden ab. Dort sind besonders Haltegriffe gefragt. Durch geschickte Drehungen soll der Gegner in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. Schließlich sind die Schmerzen groß, wird ein überdehnt oder empfindliche Stellen wie der Hals gequetscht. Schnell habe ich Wetzel am Boden im Schwitzkasten, doch dieser befreit sich in Windeseile. „Wenn ich mich von dir wegdrehe, entsteht ein Loch.“Er springt auf seine Beine, ich liege noch immer auf der Matte und frage mich: Wegdrehen? Loch?
Nach einer Stunde ist die Judostunde für mich schon fast vorbei. Die anderen Judoka, die sich parallel zu uns über die Matten bewegen, denken noch nicht ans Aufhören. Den Abschluss bildet das „Randori“, das freie Üben, um die erlernten Haltegriffe und Befreiungen zu erproben. Mit einem Gegner misst man sich in einer Art Übungskampf. Um mitzumachen, müssen jedoch die Abläufe stimmen – und zu dem Zeitpunkt habe ich schon wieder vergessen, wie überhaupt der große Hüftwurf geht. „Hajime“, schallt es durch die Halle: Beginnt! Die Judoka schnaufen laut, immer wieder peitschen die schweren Anzüge oder die nackte Haut auf die Matten. Beim Beobachten wird mir klar: Ein weiteres Grundelement ist das Timing. Egal wie schnell sich die Kämpfer bewegen, zur richtigen Zeit der richtige Hebel, und prompt liegt der Gegner am Boden.
Zum Schluss werden zusammen die Matten aufgeräumt. Hilfsbereitschaft und Höflichkeit, sagen die Mitglieder, gehören einfach dazu. Das sind die gelebten Judowerte – und wie steht es im Vereinsheft des TSV Ellgau im Bereich Judo: „Achte all diese Werte und alle Menschen. Dann wirst du beim Judo unweigerlich Freunde finden!“
Fazit: Ins Schwitzen gekommen bin ich nicht. Dafür waren die Pausen zwischen den Übungen zu groß, schließlich hat mir Trainer Friedrich Wetzel viel erklärt – immer und immer wieder. Die Übungen, die ich am Abend in der Mehrzweckhalle gelernt habe, erlenen Anfänger meist in mehreren Einheiten. Für einen Kampf fühle ich mich nicht gewappnet, dafür habe ich die Bewegungsabläufe noch nicht verinnerlicht. Aber: Es fühlt sich gut an zu wissen, dass mit der richtigen Technik auch ein größerer Gegner bezwungen werden kann.